Die historische Erforschung materieller Kultur erfreut sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit. Nachdem Gegenstände lange Zeit von einer eher textlastigen Geschichtswissenschaft vernachlässigt worden sind, werden sie nun hauptsächlich von der Neuen Kulturgeschichte als Quellen (wieder) ernst genommen und ins Zentrum historischer Untersuchungen gerückt. In Abkehr von älteren, realienkundlich orientierten Forschungsansätzen nähert sich die gegenwärtige kulturgeschichtliche Forschung historischen Objekten nicht mehr im Wesentlichen rein deskriptiv, sondern unter dem Vorzeichen einer methodisch-kritischen Reflexion, die sich auch mit der Einbettung von Gegenständen in kulturelle Praktiken, Deutungsmuster und Sinnzuschreibungen auseinandersetzt.
In der Mediävistik besitzt die Beschäftigung mit Objekten – vor allem in den Historischen Grundwissenschaften – eine lange Tradition, sie ist allerdings fast ebenso lange kaum über eine rein positivistische Betrachtungsweise der Dinge hinausgekommen. Dass sich dies allmählich ändert, dazu tragen nicht zuletzt Publikationen wie der vorliegende Sammelband bei, der die Ergebnisse des DFG-Netzwerkes »Neue alte Sachlichkeit: Realienkunde des Mittelalters in kulturhistorischer Perspektive« bündelt.
Der Sammelband, dessen selbsterklärtes Anliegen es ist, »die mediävistische Sachkulturforschung gerade nicht in monumentaler Nachhaltigkeit zum Abschluss zu bringen, sondern eine andauernde Debatte [zu] stimulieren« (S. 7), besteht aus mehreren Fallstudien, die von einer programmatischen Einleitung und einem Schlusswort der beiden Herausgeber flankiert werden. Die »Wende zum Materiellen«, wie sie hier vertreten und von Jan Keupp und Romedio Schmitz-Esser einleitend dargelegt wird, zielt darauf ab, »die lang vernachlässigte Seite des Gegenständlichen als einen Angelpunkt der Analyse zu wählen, ohne umgekehrt die Zeichenebene der Texte, Begriffe und Diskurse zu vernachlässigen, durch welche die historische Dimension der Dinge erst vermittelt und vermittelbar wird« (S. 17).
Ausgangspunkt sind daher die Objekte selbst, bevor nach und nach das Blickfeld geweitet wird. Für die praktische Forschungsarbeit wird dementsprechend ein methodischer Dreischritt vorgeschlagen: In einem ersten Schritt, der »Geschichte des Objektes«, wird der Gegenstand möglichst präzise hinsichtlich seiner materiellen Beschaffenheit, seiner äußeren Form, seiner Herstellung, seiner Überlieferungsgeschichte sowie seiner Funktionalität erfasst. Anschließend gilt es, in einem zweiten Schritt die »Geschichte im Objekt« herauszuarbeiten, d. h. den Gegenstand an die jeweiligen zeitgenössischen Diskurse und Wissensbestände anzubinden. Nachdem diese Sinnbezüge freigelegt worden sind, wird schließlich in einem dritten Schritt die »Geschichte aus dem Objekt« beleuchtet, die seine Wirkmächtigkeit in und für menschliche Handlungs- und Denkweisen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.
Erprobt wird der skizzierte Ansatz anschließend an verschiedenen Objekten mittelalterlicher Sachkultur. Die Bandbreite der untersuchten Beispiele reicht dabei von Alltagsgegenständen wie der Bruoch/Unterhose (Beatrix Nutz, Harald Stadler), zwei Kämmen (Thomas Kühtreiber, Elisabeth Vavra) und einer Flasche (Christina Schmid), über Pilgerzeichen (Jochen Jorendt), ein Kopialbuch (Andreas Zajic), eine Bleitafel (Romedio Schmitz-Esser), eine Gemme (Thomas Meier) und die Abteikirche in Ottmarsheim (Matthias Untermann) bis hin zu eindeutig repräsentativen Dingen wie der Wiener Adlerstola (Jan Keupp), der Wiener Neustädter Wappenwand (Jörg Schwarz) und dem Kölner Stadtbanner (Malte Prietzel).
Etwas aus dem Rahmen fällt der Beitrag von Achim Thomas Hack, der sich mit einer Prothese beschäftigt, die nicht mehr erhalten ist und nur mehr auf der Basis schriftlicher Quellen untersucht wird. Weil die theoretischen Prämissen in den einzelnen Fallstudien mal mehr, mal weniger umgesetzt werden, fällt die Qualität der einzelnen Objektbeispiele – gemessen an der methodisch versierten Einleitung des Bandes – unterschiedlich aus; nicht alle Beiträge vermögen das einleitend formulierte Versprechen, »über die Betrachtung der Dinge zu neuen Sichtweisen auf die Menschen des Mittelalters zu gelangen« (S. 17), auch tatsächlich zu erfüllen.
Der Sammelband öffnet insgesamt den Blick dafür, wie reichhaltig die überlieferte mittelalterliche Sachkultur ist und welche vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten für kulturgeschichtliche Fragestellungen sie bietet. Der gewählte Zugriff auf die Materialität des Mittelalters überzeugt vor allem durch seine umsichtige analytisch-theoretische Fundierung, die in der Einleitung von den beiden Herausgebern ausführlich und elegant dargelegt wird. Auch der für den Umgang mit historischen Objekten entwickelte methodische Dreischritt erweist sich prinzipiell als gut operationalisierbares Instrumentarium.
Gleichwohl legen die Fallstudien eine grundlegende Problematik mediävistischer Forschung offen, die sich in diesem Zusammenhang besonders fatal auswirkt, und zwar die häufig unzureichende Quellenlage. Die über eine rein positivistische Beschreibung hinausgehende kulturgeschichtliche Untersuchung eines historischen Objektes besteht ja gerade darin, dieses Objekt in historische Handlungs- und Sinnzusammenhänge einzubetten; wenn aber eine weiterführende Kontextualisierung aufgrund mangelnder schriftlicher (und/oder bildlicher) Quellen kaum möglich ist, worin liegt dann der Erkenntnisgewinn? So zeugen die Fallstudien auch davon, dass sich offensichtlich nicht jedes erhaltene Objekt gleichermaßen als Untersuchungsgegenstand für die kulturhistorische Forschung eignet. Ohne ein solches Ausprobieren und Herantasten wird eine kulturgeschichtliche Erforschung mittelalterlicher Sachkultur allerdings wohl nicht vorankommen. Der Mut der Netzwerkteilnehmerinnen und -teilnehmer, sich diesem Experiment mit ungewissem Ausgang und bisweilen ohne handfeste Ergebnisse gestellt zu haben, verdient deshalb besondere Anerkennung.
Irritierend wirkt indes das Label als »Studienbuch«, handelt es sich doch von der Konzeption her um einen klassischen Sammelband. Die methodische Herangehensweise kann zweifellos »Studentinnen und Studenten verschiedenster historischer Fachgebiete einen Leitfaden an die Hand geben, wie man kulturhistorische Studien mit und aus Objekten schreiben kann« (S. 9). Aber die methodisch-analytischen Überlegungen, in denen einschlägige Theorien und Denkmodelle oft en passant angerissen, jedoch kaum erklärt werden (z. B. Heidegger S. 33), erscheinen allzu voraussetzungsreich für eine studentische Leserschaft. Daran ändern auch die in den Text eingestreuten Kästen mit weiterführenden Erläuterungen wenig, deren zusätzlicher Informationswert sich überdies nicht immer erschließt. Ebenso mag bezweifelt werden, dass heutige Studierende wirklich noch mit der »Feuerzangenbowle« »abgeholt« werden können.
Ungeachtet dieser Kritik leistet der Band einen wichtigen, vor allem in methodisch-analytischer Hinsicht anregenden und bereichernden Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion über die Materialität des Mittelalters. Es bleibt der Auftrag, künftig den reichen »Schatz mittelalterlicher Sachquellen […] noch konsequenter als bisher zu heben« (S. 373).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Kirsten Frieling, Rezension von/compte rendu de: Jan Keupp, Romedio Schmitz-Esser (Hg.), Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des Mittelalters, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2015, 375 S., ISBN 978-3-7995-0629-8, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71478