Die »ökonomische Funktion« von Juden im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa ist ein Allgemeinplatz sowohl der vormodernen als auch der modernen Forschung: Aufgrund des Ausschlusses aus den mittelalterlichen christlichen Gilden und des Zinsverbotes seien Juden im Frühmittelalter primär im Handel, seit dem Hochmittelalter dann im Geldgeschäft tätig gewesen, und diese Tätigkeit sei die gewissermaßen reale Grundlage moderner Stereotype über die angeblich besondere Nähe von Juden zu Geld und Wucher.
Dieses angebliche Kausalitätsverhältnis ist in unzähligen Texten der historischen Forschung und der politischen Bildung, in Schulbüchern und in Ausstellungen zu finden und hat damit den Status eines Truismus oder eines Masternarrativs erlangt – denn die dem zugrundeliegende »ökonomische Funktion« der europäischen Juden ist keinesfalls auch in wirtschaftsgeschichtlichen Studien abgesichert. Sie ist vielmehr, wie viele andere Aspekte der Antisemitismusforschung, einer mangelnden Kommunikation zwischen Expertinnen und Experten der mittelalterlichen und der modernen sowie jüdischer und nichtjüdischer Geschichte geschuldet sowie verschiedenen Motiven und Voraussetzungen der Historiografie des 19. und 20. Jahrhunderts.
Dieser Versuch, mittelalterliche jüdische Lebensrealitäten als Vorlagen für moderne Stereotype heranzuziehen, existiert auch bezüglich anderer Aspekte, etwa Ritualmord oder sexuelle Devianz – aber nirgends ist er so präsent wie beim angeblich lange gewachsenen Zusammenhang von Juden und Geld. Die Hinterfragung dieses Zusammenhangs ist eigentlich sowohl von Seiten der Wirtschaftsgeschichte her naheliegend – bei welcher Bevölkerungsgruppe sonst würde man von einer sehr kleinen, quellenmäßig gut sichtbaren Anzahl von Personen auf die gesamte Gruppe schließen? – als auch von Seiten der Forschung über Ressentiments; dennoch hält sich der Gemeinplatz hartnäckig.
Julie Mell geht in ihrer zweibändigen Studie »The Myth of the Medieval Jewish Moneylender« der Entstehung dieses Truismus nach. Sie benutzt dabei die aktuellen Ansätze in der mediävistischen Wirtschaftsgeschichte, die die Funktion von Juden im mittelalterlichen Geldwesen infrage stellen, als Aufhänger, vor allem die Arbeiten von Giacomo Todeschini, der die Figur des jüdischen Wucherers semantisch in der franziskanischen Theologie und Wirtschaftstheorie verortet und damit als Konstruktion entlarvt.
Die Autorin verfolgt im ersten Band die Entstehung des Narrativs von der speziellen ökonomischen Funktion der Juden in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts. Nach einer Einleitung zeichnet Kapitel 2 die Situierung des Narrativs in den Arbeiten von Wilhelm Roscher, Werner Sombart und Max Weber nach, in deren Arbeiten implizit eine völkische Definition mittelalterlicher Gesellschaften benutzt wurde, um die Relation zwischen Christen und Juden zu beschreiben. Mell kontextualisiert die sich verändernde Rezeption von Arbeiten aus der frühen Wissenschaft des Judentums, vor allem Isaak Josts »Geschichte der Israeliten«, mit der Entwicklung des politischen Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts sowie mit Debatten innerhalb des liberalen Judentums. Für letztere erfüllte das Narrativ einer ökonomischen Funktion mittelalterlicher Juden das Bedürfnis nach einer gesellschaftlichen Funktion, die über das religiös Andere hinausging und gleichzeitig als Modell für jüdische Identität in modernen Staaten dienen konnte.
Eine ähnliche dialogische Situation zwischen jüdischen und nichtjüdischen Forschern sieht Mell im 3. Kapitel, in dem die Tradierung des Narrativs mit den Erfahrungen von Flucht, Exil und Vernichtung im Holocaust zusammengebracht werden. Hier werden die Arbeiten der Emigranten Guido Kisch, Toni Oelsner, Karl Polyani zusammen mit denjenigen von Georges Duby diskutiert. Mell bringt dabei erneut mediävistische Forschung mit modernen Gesellschaftsanalysen zusammen. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, aus ökonomischen Veränderungen am Ende des 12. Jahrhunderts eine Charakteristik von Vor- oder Frühkapitalismus zu analysieren, in der die Verbreitung des Münzwesens mit einem angeblich neuen Profitstreben zusammenfiel. Diese beiden Faktoren wurden auch zur Erklärung der Radikalisierung des Antisemitismus zur selben Zeit herangezogen, etwa von Lester Little, der darin einen Ausdruck des Krisenempfindens europäischer Stadtgesellschaften im Übergang von geschenk- und tauschbasierter zu profitbasierter Ökonomie sieht. Hier kommt dann die ökonomische Funktion der Juden mit einer Art Sündenbockfunktion zusammen.
Der zweite Teil des ersten Bands stellt eine exemplarische Untersuchung von Juden in den Steuerlisten und im Geldwesen allgemein in England vor der Vertreibung dar. Ein wesentliches Ergebnis hier ist die Feststellung, dass zwar einige wenige extrem reiche Juden zentral für die Finanzierung der englischen Administration waren, dass das aber nicht dazu verleiten darf, von diesen auf die gesamte jüdische Bevölkerung zu schließen – eigentlich auch ein Allgemeinplatz. Weiterhin argumentiert Mell, dass die viel diskutierte Institution der exchequer den Juden keine besonderen Privilegien, sondern den Status christlicher freier Personen ermöglichte.
Der zweite Band versammelt drei weitere Fallstudien: die Gesetzgebung über Wucher im Kontext der Kreuzzugsbewegung in Nordfrankreich, die Aktivitäten jüdischer Händler in Marseille (die der These widerspricht, dass die Händler sukzessive ins Geldgeschäft gedrängt worden seien) und christliche und jüdische Exempla aus dem deutschsprachigen Raum über die kulturelle Bedeutung von Geld. Im letzten Teil überzeugt vor allem die Herausarbeitung einer gemeinsamen kulturellen Wertegrundlage bezüglich der Bedeutung von Geld in den christlichen und jüdischen Quellen.
Die beiden Bände von »The Myth of the Jewish Moneylender« sind jeweils keine strikten wirtschaftsgeschichtlichen oder wissenschaftsgeschichtlichen Studien, vielmehr vermischen sie beide Richtungen sowohl in den mediävistischen als auch den modernen Teilen. Das größte Verdienst der umfassenden und facettenreichen Arbeit liegt in der Historisierung und damit Dekonstruktion eines gefährlichen Narrativs: der Annahme, dass Juden durch ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten (selbstgewählt oder erzwungen) im Mittelalter selbst eine reale Grundlage für antijüdische Stereotype und damit für Verfolgung, Vertreibung und Diffamierung bis heute gegeben hätten.
Dieses Konstrukt wurde, wie Mell überzeugend zeigt, durch ein Zusammenspiel von antisemitischen Stereotypen sowie verschiedenen Wissenschaftsrichtungen und der politischen und sozialen Situation ihrer Protagonisten geschaffen, nicht durch empirisch abgesicherte Quellenstudien. Mit Blick auf die Finanzierung europäischer Fürstenhöfe traten etwa einige jüdische Geldhändler prominent hervor, die angesichts der oft schwierigen Quellenlage über die restliche jüdische Bevölkerung dann pars pro toto für die gesamte Gruppe gesehen werden – die jedoch mehrheitlich in armen Verhältnissen lebte und handwerklich arbeitete. Christliche Geldgeber, in der hier betrachteten Periode in England jedenfalls zahlreicher vorhanden als jüdische, wurden auf der Basis des vorherrschenden Narrativs eher als Ausnahme gesehen. Dieser Fokus auf exzeptionellen Personen und Biografien war und ist, aus unterschiedlichen Motivlagen heraus, jüdischen und nicht-jüdischen Forschern gemeinsam.
Während dieses grundlegende Ziel der Studie erreicht wird, ist der umfassende Anspruch und daraus folgend der Umfang der Studie eher geeignet, es zu obstruieren. Grundsätzlich ist der Ansatz, das Narrativ von der jüdischen »ökonomischen Funktion« sowohl modern-wissenschaftsgeschichtlich als auch mediävistisch-empirisch zu dekonstruieren, wichtig und begrüßenswert. In Mells Studie kommt jedoch von allem ein bisschen zu viel davon vor. Mells profunde Kenntnis der primär deutschsprachigen Forschungslandschaft des 19. und 20. Jahrhunderts hätte klarer strukturiert und mit weniger hin- und herspringenden Verweisen präsentiert werden können, ohne das Argument zu schwächen.
Auch der Anspruch, den mediävistischen Teil der Studie auf so viele europäische Regionen und entsprechend auch unterschiedliche Quellenlagen zu beziehen, erschwert es eher, der schrittweisen Dekonstruktion des Narrativs zu folgen, und viele wichtige Teilergebnisse werden in der Menge eher verschüttet. Besonders schade wäre es, wenn die Aufteilung in zwei Bände dazu führen würde, dass durch den Kauf nur eines davon der Dialogcharakter zwischen mediävistischer und neuzeitlicher Forschung zerstört würde. Gleichwohl sind die beiden Bände wichtige Beiträge zur Differenzierung der Einschätzung jüdischen Lebens im Mittelalter und vor allem der europäischen Wirtschaftsgeschichte – und führen hoffentlich auch zumindest bei einigen Neuzeitforschungen und Projekten zum Thema Antisemitismus zu einer kritischeren Betrachtung der mittelalterlichen Kontinuitäten und ihrer angeblich realhistorischen Grundlagen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Cordelia Heß, Rezension von/compte rendu de: Julie L. Mell, The Myth of the Medieval Jewish Moneylender. Volume I and II, Basingstoke, Hampshire (Palgrave Macmillan) 2017, XII–264 p.; XIX–336 p., 26 fig., 26 tabl. (Palgrave Studies in Cultural and Intellectual History) ISBN 978-1-137-39778-2; 978-3-319-34186-6, EUR 93,59; EUR 88,39., in: Francia-Recensio 2020/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71482