Der vorliegende Band beschäftigt sich mit der Staatsbürgerschaft im europäischen Vergleich, der zeitliche Bogen spannt sich zwischen der Hochzeit des Nationalstaates im 19. Jahrhundert bis in die europäische Einigung hinein. Die Autorin und die beiden Autoren, zugleich Herausgeber/in des bei Mohr Siebeck erschienen Sammelbandes, sind ausgewiesene Kenner der Materie. Dieter Gosewinkel führt in seinem Beitrag Staatsbürgerschaft als interdisziplinäres Forschungsfeld vor, das in den Rechtswissenschaften schon sehr früh, in den Sozial- und Geschichtswissenschaften mit einiger Verzögerung Aufmerksamkeit gefunden hat. In der historischen Soziologie sind besonders in Folge von Thomas H. Marshall und Rogers Brubaker bis heute rezipierte Ansätze entstanden, an denen Gosewinkel neben dem Erkenntnisgewinn zugleich die Unzulänglichkeiten aufweist. Besonders greift er die von Brubaker in den 1990er-Jahren prominent vertretene Dichotomie zwischen Bluts- und Bodenrecht auf – eine Theorie, die beiden Entwicklungspfaden gegensätzliche Prinzipien im Erwerb der Staatsangehörigkeit zuordnet.

Demgegenüber betont Gosewinkel, dass die Durchsetzung eines Erwerbsprinzips von bestimmten gesellschaftlichen Faktoren abhängig war, unter denen Nationsvorstellungen zwar eine wichtige Rolle spielten, die aber neben andere Faktoren wie demografischen oder wehrtaktischen Überlegungen traten. Zentraler Angelpunkt in der Frage, ob eine Nation sich als offen oder geschlossen gegenüber ausländischen Minderheiten verhielt, war das Staatsangehörigkeitsrecht und eine mehr oder weniger restriktive Einbürgerungspolitik. Das Resultat der in Frankreich und im Deutschen Reich an der Jahrhundertwende eingeleiteten Reformen, die entweder auf die Stärkung des ius soli oder des ius sanguinis hinausliefen, war entsprechend ambivalent: Fanden in Deutschland bis 1933 durchaus Einbürgerungen von Polen und Juden statt, erhöhte Frankreich mit dem Gesetz von 1889 die Hürden für die Verleihung der Staatsangehörigkeit für alle Ausländer, die nicht von dem der zweiten Einwanderergeneration eingeräumten Bodenrecht profitierten. In einem abschließenden Kapitel wendet sich Gosewinkel der nationalsozialistischen Rassegesetze und der Schaffung der Kategorie des Reichsbürgers zu, wobei er den Bruch mit dem 1913 verabschiedeten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz betont.

Julia Angster geht der Entwicklung von Staatsbürgerschaft im Kontext von Interventionsstaat und Nationalisierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert nach. Sie fragt nach Gemeinsamkeiten auf europäischer Ebene und widmet das erste Kapitel der Entstehung des modernen Verwaltungsstaates, wie er in Frankreich mit der Revolution von 1789, in Großbritannien mit den Whig-Reformen der 1830er-Jahre und in Preußen mit den Reformen seit der napoleonischen Ära entstand. Bis zum Ende des Jahrhunderts kam es zu einem beispiellosen Anwachsen der Staatsgewalt. Parallel entdeckte der Staat die Gesellschaft selbst als einen zu verwaltenden Gegenstand, wobei hier die Identifizierung und klare Zuordnung der Individuen etwa in Fragen der Wehrpflicht, Besteuerung oder Mobilitätskontrolle im Vordergrund standen. Anschließend untersucht die Autorin Forderungen nach bürgerlichem Recht und Verfassung, wie sie von den europäischen (Früh-)Liberalen in Abgrenzung zum expandierenden Interventionsstaat gefordert wurden. Ihnen lag ein Nationskonzept zugrunde, das auf die sozial, kulturell, sprachlich oder historisch begründete Gemeinschaft abhob. Angster weist auf die legitimierende und konstituierende Wirkung dieser Gemeinschaftsvorstellung hin. Der Staat wirkte an dem Vordringen der Nation zum Teil selbst mit, indem er die gesellschaftliche Homogenisierung durch eine gezielte Sprach- und Schulpolitik förderte, wie dies in der französischen Dritten Republik der Fall war.

Mit Blick auf die Entwicklung der Staatsbürgerschaft greift Angster in ihrem dritten Kapitel den von Ulrich Bielefeld vorgedachten Ansatz der Essentialisierung des Nationsbegriffs auf und zeichnet die Auswirkungen auf die Ausgestaltung von Staatsbürgerschaft nach. Der Versuch, die Mitglieder einer Nation über gemeinsame biologische Merkmale zu definieren, führte seit den 1880er-Jahren dazu, den Zusammenhang zwischen Nationalität und Ethnizität zu stärken. In Folge der Reichsgründung von 1871 wurde das Staatsangehörigkeitsgesetz im föderativen Rahmen vereinheitlicht, das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 stand am Ende einer intensiven Kampagne rechter und völkisch gesinnter Interessengruppen, die die Einbürgerung fortan von der Abstammung abhängig machen wollten. Einen etwas anders gelagerten Funktionswandel erlebte Staatsangehörigkeit in den Kolonien, wo sie weniger der Unterscheidung von In- und Ausländern, sondern von Kolonialherren und Kolonisierten diente, so Angster.

Christoph Gusy wendet sich in seinem Beitrag dem Fortbestand des Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland nach 1945 zu. Er hebt hervor, dass das Gesetz von 1913 und das darin festgelegte Abstammungsprinzip in Kraft blieben. Als ein Merkmal in der weiteren Geschichte der Bundesrepublik zeigte sich die relative Entwicklungsarmut des Gesetzes, zentrale Bestimmungen wurden im Bereich von Einwanderung und Migrationskontrolle in anderen Rechts- und Verwaltungsbereichen getroffen. Folgenreich erwies sich zunächst die in das Grundgesetz eingeführte Unterscheidung von deutschen Staatsangehörigen und Volkszugehörigen, die die Grundlage für die Aufnahme von Vertriebenen und Aussiedlern schuf. Eine weitere Relativierung erfuhr das ursprünglich für Gesamtdeutschland konzipierte Staatsangehörigkeitsrecht mit dem Grundlagenvertrag von 1972 und dem Prinzip der offenen Tür, mit dem Angehörige der DDR als Volkszugehörige im Sinne des Grundgesetzes de facto in der Bundesrepublik eingebürgert wurden.

In den 1960er- und 1970er-Jahren lösten Gastarbeiter Vertriebene und Aussiedler als größte Einwanderergruppen ab, gelangten zu festen Aufenthaltstiteln, was wiederum auf Urteile des Verfassungsgerichts zu Ausweisungsschutz und Familiennachzug zurückzuführen war. Damit löste sich das Aufenthaltsrecht partiell vom Staatsangehörigkeitsrecht, was die im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses ab 1968 geschaffenen Grundrechte der Niederlassung, Dienstleistung und Arbeitnehmerfreizügigkeit noch vertieften. Diese Entwicklung ließ die schon seit dem 19. Jahrhundert entstandene Kategorie der Staatsbürgerschaft verschwimmen, sofern darunter ein von der Staatsangehörigkeit abhängiger Katalog bürgerlicher, sozialer und politischer Rechte verstanden wird. Erwerbstätige Einwanderer waren sozialversicherungspflichtig und somit schon früh mit der sozialen Teilhabe ausgestattet. Politische Mitsprache und Wahlrecht in Bund, Ländern und Kommunen blieben dagegen an die Staatsangehörigkeit gebunden. Bis heute besteht in der deutschen Gesetzeslage kein eindeutiger Bezug zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, beide bezeichnen unterschiedliche Rechtsbündel, die sich zwar überschneiden, aber nicht ineinander aufgehen. Seinen Beitrag schließt der Autor mit einem Blick auf die EU-Bürgerschaft ab, welche auf der Angehörigkeit zu einem Mitgliedsstaat aufbauend Grund- und politische Mitwirkungsrechte (Wahlen zum europäischen Parlament) gewährt.

Auf verhältnismäßig kleinem Raum zeichnet der Band die komplexe und vielschichtige Geschichte von Staatsangehörigkeit und -bürgerschaft zwischen Nationalstaat und europäischer Einigung nach. Sehr gut zum Tragen kommt, dass sich Staatsbürgerschaft nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern stets auch in Abgrenzung zu anderen Ländern entwickelte. An manchen Stellen würde sich der Leser einen tieferen Einblick gerade in die Praxis der Einbürgerung wünschen, in jüngster Zeit erschiene Untersuchungen zeigen, wie komplex die Situation gerade im kolonialen Kontext war. So fordert etwa der algerische Fall zu Nuancierung auf, gehörte hier die muslimische Bevölkerung formal zu Frankreich, so diente nicht Staatsangehörigkeit, sondern Religion als Kriterium für die Verleihung eingeschränkter staatsbürgerlicher Rechte. Daneben nutzte der französische Staat die Einbürgerung mit Blick auf europäische Ausländer ähnlich wie in der Metropole als Instrument der Bevölkerungs- und Arbeitsmarktkontrolle.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Axel Dröber, Rezension von/compte rendu de: Julia Angster, Dieter Gosewinkel, Christoph Gusy, Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen (Mohr Siebeck) 2019, XI–203 S., ISBN 978-3-16-156983-8, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71620