Die Urteile über die Arbeit und vor allem über die Rolle der, so der offizielle Name, Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums, im Transformationsprozess der DDR vom »Plan« zum »Markt« bewegen sich auch gut 25 Jahre nach ihrer Auflösung zwischen den »beiden Extremen einer grandios-alternativlosen Erfolgs- und einer uferlos-radikalen Misserfolgsgeschichte« (S. 15). Marcus Böick, Akademischer Rat auf Zeit am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum, möchte mit seiner gewichtigen, umfassenden und originellen Studie die »ausgetretenen Pfade« einer ausschließlich am wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg interessierten Sicht überwinden, indem er »die Treuhand und ihr Personal als soziales und kulturelles Arrangement beziehungsweise als Arena in einer dynamischen Übergangs- und Umbruchsgesellschaft« begreift, »die dieser Organisation vorgelagerten Ideen und Konzepte sichtbar« macht und ihre »hochdynamische Alltagspraxis in verschiedenen Phasen« untersucht.
Seine Leitfrage lautet deshalb: »Wie, durch wen und auf welche Weise« wurde »der Übergang vom planwirtschaftlichen Sozialismus zum marktwirtschaftlichen Kapitalismus konzeptionell erdacht, alltäglich gestaltet und individuell reflektiert« (S. 17; Hervorhebungen in der Vorlage). Über 80 sozialwissenschaftliche Interviews mit Mitarbeitern und (wenigen) Mitarbeiterinnen der Treuhand bilden denn auch neben Erinnerungen, Presseveröffentlichungen, Editionen und Dokumentationen sowie unveröffentlichten Archivalien aus dem Bundesarchiv und dem Bundestagsarchiv die wichtigste Quellenbasis.
Böick präsentiert sein Material und seine Befunde in drei umfangreichen Blöcken. Im ersten, ideengeschichtlich orientierten Kapitel rekonstruiert er die der am 1. März 1990 beginnenden Treuhand-Geschichte vorausgehenden Debatten und Aushandlungsprozesse um Auftrag und Zuschnitt der zu gründenden Organisation. Ein wichtiges Thema ist die Frage nach Alternativen zum letztendlich eingeschlagenen Weg des forcierten Wirtschaftsumbaus in Richtung Privatisierung des DDR-»Volksvermögens«. In der im November 1989 einsetzenden Diskussion gewann nach und nach, nicht zuletzt unter dem Einfluss westdeutscher Ökonomen, das Narrativ von der »Alternativlosigkeit« der Privatisierung die Oberhand. Der unter der Ägide des »Runden Tisches« in einem heterogen zusammengesetzten Gesprächszirkel einiger oppositioneller DDR-Theologen, Natur- und Geisteswissenschaftler entwickelte Vorschlag zur Errichtung einer »Treuhandstelle« zur »Sicherung der Rechte der DDR-Bevölkerung am Gesamtbesitz des Landes« (S. 182) war damit zum Scheitern verurteilt. Statt einer »Demokratisierung« des Volksvermögens, wie die oppositionellen Wissenschaftler forderten, keinesfalls jedoch dessen »Zerschlagung oder gar Verwertung« (S. 185), erhielt die nun als »Treuhandanstalt« firmierende Einrichtung von der DDR-Regierung einen neuen Arbeitsauftrag: die zügige »Umwandlung von Volkseigenen Betrieben in Kapitalgesellschaften« (S. 190).
Im zweiten, auf die Organisationsgeschichte fokussierten Kapitel geht Böick der Frage nach, welche organisationsgeschichtlichen Entwicklungsphasen die Treuhand durchlief. Er unterscheidet fünf Stadien: Eine »Ur-Treuhandanstalt« als »ausschließlich mit Ostdeutschen besetzte DDR-Behörde«, eine »sehr kurze, aber konfliktreiche ›Scharnierphase‹« im Juli und August 1990 mit der Ankunft erster westdeutscher Führungskräfte, eine »umfassende Expansion und Reorganisation« unter dem neuen Präsidenten Detlev Rohwedder zwischen August 1990 und April 1991, eine durch das »operative Massengeschäft des Wirtschaftsumbaus« unter der Präsidentin Birgit Breuel gekennzeichnete vierte Etappe in den Jahren 1991/1992 und schließlich die »eigene ›Auflösung‹ und Ordnung der Hinterlassenschaften« 1993/1994 (S. 239).
In jedem der dieser Periodisierung entsprechenden fünf Unterkapitel unterscheidet der Autor zwischen Kontexten, Praxis, Strategien, Organisation und Personalpolitik. Auf diese Weise gelingt es Böick, den Wandel der Behördenstruktur und der wirtschaftspolitischen Konzepte sehr differenziert und plastisch zu rekonstruieren und das zeitweise herrschende euphorische Klima zu verdeutlichen, das einer der Treuhandmitarbeiter voller Begeisterung mit einem »ägyptische(n) Basar« verglich: »Die Privatisierung hatte Narrenfreiheit, es war eine nationale Aufgabe, man konnte hier schalten und walten wie man wollte«. Narrenfreiheit selbstverständlich, wie er einschränkte, »im guten Sinne […], alle waren aufgerufen, möglichst bald hier eine Wirtschaft in Gang zu bringen« (S.318).
Im dritten, sozial- und erfahrungsgeschichtlich angelegten Kapitel nimmt der Autor die »individuelle Ebene subjektiver Erzählungen« (S. 88) in den Blick, also die Art und Weise, wie Mitarbeiter der Treuhand über ihre Erfahrungen, ihre professionellen Prägungen und ihre individuellen Motivationen für ihr Engagement berichten. Er differenziert dabei zwischen Industriemanagern, Verwaltungsexperten, Planwirtschaftskadern und den »Anderen«, nämlich Yuppies, Frauen und Ausländern: »Mit dieser soziokulturellen Gemengelage aus innerer Pluralität, expansiven Wachstumsdynamiken sowie hohem Außendruck aus Politik, Öffentlichkeit und Gesellschaft mittel- und langfristig umzugehen, blieb eine zentrale Herausforderung für die Treuhand-Spitze« (S. 713).
Böicks hervorragende Studie überzeugt vor allem dadurch, dass sie keine einseitige Helden- oder Schurkengeschichte erzählt, sondern »die Treuhandanstalt als ein aus einem wirtschaftspolitischen Sondermodell entstandenes, sich dann verselbständigendes, marktwirtschaftlich-unternehmerisches Ausnahmeregime« begreift, »dessen Mitarbeiter sich selbst als Teil einer exzeptionellen, entgrenzten und beschleunigten Abenteuer- und Aufbaugemeinschaft verstanden« (S. 724). Er widerspricht damit gängigen Thesen einer von langer Hand geplanten »›Übertragung‹ westlicher oder westdeutscher Wirtschaftsmodelle auf Ostdeutschland« oder gar der Existenz eines »groß angelegten, »neoliberalen« Transferexperiments von West nach Ost« (S. 726). Ob diese Interpretation Gültigkeit beanspruchen kann, werden künftige Forschungen zeigen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, Göttingen (Wallstein) 2018, 767 S., ISBN 978-3-8353-3283-6, EUR 79,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71624