Mit »Les mots de la RDA« haben Hélène Camarade und Sibylle Goepper ein hervorragendes und nützliches Hilfsmittel zur DDR-Geschichte für frankophone Forschende, Studierende und Interessierte vorgelegt. In diesem Band wie in den 37 bisher erschienenen Bänden der interdisziplinär angelegten Reihe »Les mots de…« der Presses universitaires du Midi steht der abécédaire mit seinen konzisen Lemmata im Vordergrund. Der handliche Band enthält zudem eine sehr knappe Chronologie, eine ebenso knappe Bibliographie, eine Übersichtskarte der DDR, ein Verzeichnis der Einträge und ein Abkürzungsverzeichnis.
In ihrem Vorwort erläutern Camarade und Goepper die Auswahl der – nach Zählung des Rezensenten – 134 Einträge, die nicht auf Termini technici des realsozialistischen Regimes, Politik und Ideologie beschränkt bleiben; der Band umfasst auch Begriffe aus Sozialgeschichte, Alltagskultur und Subkulturen. Zahlreiche weitere Fachbegriffe sind in die Artikel eingeflochten. Neologismen (»sich dekonspirieren«) finden sich ebenso wie DDR-typische Umdeutungen gängiger deutschsprachiger Begriffe (»Bückware«). Die Autorinnen sprechen Übersetzungsprobleme ausdrücklich an – manche Lemmata bleiben in deutscher Sprache – und diskutieren die epistemische Problematik mancher Begriffe, die zugleich Quellenbegriff, Objekt der Erinnerung und analytischer Begriff der Forschenden sind. Neben der Übersetzung und Definition bieten die Autorinnen deshalb auch eine historische Kontextualisierung der Begriffe und erläutern Bedeutungsverschiebungen. Ein System von Verweisen regt zum Springen von Eintrag zu Eintrag an.
Allein mit den Lemmata der Buchstaben A wie »affaire Biermann« und Z wie »Zone« lässt sich exemplarisch die Geschichte der DDR erzählen: Ausgangspunkt ist die Besatzungszeit, da die spezifische Entwicklung der DDR sich nur als Folge der deutschen Niederlage, des Endes des NS-Regimes und der Ausweitung des sowjetischen Machtanspruchs auf die »Zone« erklären lässt. Die Legitimität der ostdeutschen Staatsgründung 1949 wurde freilich in Westdeutschland, wo »Zone« zum antikommunistischen Kampfbegriff mutierte, unter Verweis auf ebendiese Ursprünge in Frage gestellt. Die deutsch-sowjetische Freundschaft (»amitié germano-soviétique«) und der Antifaschismus (»antifascisme«) sind Gründungsmythen, die die Legitimation des neuen Staats, seine ideologische und historische Selbstverortung und seine Position im Blockkonflikt plausibel machen sollten.
Wichtige Sozialisations- und Kontrollinstanzen wie die »armée« (Nationale Volksarmee – NVA), kommen ebenso in den Blick wie Formen der politischen Partizipation, die von der eigenen Bevölkerung als mangelhaft empfunden wurden, etwa die rein akklamatorischen Volkskammerwahlen, bei denen es genügte, den Wahlzettel mit der Einheitsliste zu falten und in die Urne zu werfen. Wer sich nicht mit diesem »Zettelfalten« begnügte und der Wahl fernblieb, den Wahlvorschlag strich oder den Stimmzettel ungültig machte, zeigte offen seinen Widerwillen und ging ein hohes Risiko ein in einem Staat, in dem bereits die Nutzung der Wahlkabine Misstrauen erregte.
Auch abweichendes Verhalten im Alltag führte zu Verfolgung und Stigmatisierung als »Asoziale«. Für Künstler konnte offene Kritik Auftrittsverbot, Haft oder Schikanen nach sich ziehen oder die Vertreibung aus der DDR: die »affaire Biermann« 1976 steht exemplarisch für die Strategie der DDR-Führung unter Erich Honecker, wortstarke Kritiker einfach durch Ausbürgerung loszuwerden – mit dem unerwünschten Nebeneffekt, dass der Skandal bei weiten Teilen der Gesellschaft jegliche Illusion über die Reformierbarkeit der DDR zerstörte. Tatsächliche und potenzielle politische Gegner überwachte und verfolgte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), wobei »Zersetzungsmaßnahmen« zum Einsatz kamen, die nur scheinbar subtiler waren als Hausarrest, Haft und Ausbürgerung: das MfS zerstörte Bildungs- und Berufskarrieren, säte Misstrauen und isolierte so Menschen und brach sie psychisch.
Friedenswerkstätten (»atelier pour la paix«) und andere Basisgruppen etwa der Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung unter dem Schutz der Kirchen boten Nischen für Andersdenkende, in denen Ende der 1980er-Jahre Impulse für die Friedliche Revolution 1989/1990 gesetzt wurden. In der Erinnerungsgeschichte überlebte die DDR jedoch Mauerfall und Wiedervereinigung: Die »Aufarbeitung der Vergangenheit« bleibt bis heute ein zentraler, wenn auch nicht mehr der einzige Impuls, um sich mit dieser deutschen Geschichte zu beschäftigen.
Folgt man den Verweisen dieser Lemmata, öffnet sich das weite Panorama der DDR-Geschichte: Ideologie und Probleme der sozialistischen Gesellschaft, die DDR als Teil des Ostblocks und die deutsch-deutschen Beziehungen, Konsum und Privatleben, Subkulturen und Nischen (von Punks bis zu Neonazis), Instrumente der Sozialkontrolle und Verfolgung, …
Wie so oft erweist es sich als produktiv, über die Worte nachzudenken, die wir wie selbstverständlich benutzen. Dieser Effekt wird verstärkt durch die Perspektive aus der fremdsprachigen Forschung und die Notwendigkeit, Quellenbegriffe in eine andere Wissenschaftssprache zu übersetzen. Für diesen Reflexionsprozess liefert das Bändchen ein wichtiges Hilfsmittel.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jürgen Finger, Rezension von/compte rendu de: Hélène Camarade, Sibylle Goepper, Les mots de la RDA, Toulouse (Presses universitaires du Midi) 2019, 130 p. (Les mots de, 38), ISBN 978-2-8107-0613-6, EUR 9,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71627