Zwar wird in den Geisteswissenschaften allenthalben Interdisziplinarität gefordert. Allerdings kann diese verschiedentlich ausgelegt werden. Oft wird unter Interdisziplinarität einfach nur der Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen verstanden, die aus unterschiedlichen Perspektiven einen bestimmten Gegenstand untersuchen. Seltener sind genuin interdisziplinäre Ansätze, die Erkenntnisse aus unterschiedlichen Gebieten integrieren.

Pierre Rosanvallon gehört zweifelsfrei zu den herausragenden Denkern unserer Zeit, die tatsächlich über fachspezifische Denkgewohnheiten hinausgegangen sind und die Grenzen zwischen den Disziplinen herausgefordert haben. Seit der Publikation seines ersten Werkes »L’Âge de l’autogestion« (1976) ist es ihm in seinen zahlreichen Publikationen gelungen, eine eigene Methodik zu entwickeln, die keiner Fachdisziplin eindeutig zuordenbar ist. Der vorliegende Sammelband bietet zum ersten Mal dem englischsprachigen Publikum einen breiten Überblick über die verschiedenen Facetten seines Denkens.

In der angelsächsischen Welt ist Rosanvallon vor allem als Ideenhistoriker des französischen Liberalismus bekannt (S. 10). In den verschiedenen Beiträgen des Bandes wird deutlich, dass diese Kategorisierung seinem Denkansatz jedoch nicht gerecht wird. Der Autorin und den Autoren ist es gelungen, die enge Verknüpfung der historischen Ausführungen mit den Analysen zur gegenwärtigen Krise westlicher Demokratien in Rosanvallons Werk aufzuzeigen. Im Gegensatz zu den Ansätzen von John Rawls oder Jürgen Habermas zielt Rosanvallons Ansatz nicht darauf ab, universelle und allgemeingültige Kriterien für eine demokratisch verfasste Gesellschaft aufzustellen (S. 89). Ihm zufolge kann die Bedeutung des Begriffs der Demokratie zwangsläufig nicht eindeutig festgelegt werden. Die Demokratie muss vielmehr als ein kollektiver Prozess verstanden werden, in dessen Verlauf sich die Gesellschaft selbst konstituiert (S. 231).

Rosanvallon hat sein Forschungsprogramm der Untersuchung der Geschichte des Politischen in der Moderne gewidmet, ein Konzept, das ursprünglich auf Carl Schmitt zurückgeht. Er führt damit eine französische Denktradition fort, die von Raymond Aron über Claude Lefort bis zu Jacques Rancière reicht1. Der Begriff des Politischen bezeichnet bei Rosanvallon den historischen Prozess, in dessen Verlauf Kollektive ein Regelwerk aushandeln, das ein gemeinschaftliches Zusammenleben ermöglicht (S. 23). Unter Politik versteht er hingegen das politische Alltagsgeschäft, die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Akteuren sowie die Funktionsweise der Institutionen (S. 24). Rosanvallons Demokratietheorie ist eng an Claude Lefort angelehnt, sein einstiger Doktorvater an der EHESS in Paris. Er knüpft an dessen These an, wonach das Wesen der Demokratie darin bestünde, dass sie Konflikte institutionalisiert und der Existenz verschiedener Interessen und Weltbilder Rechnung trägt (S. 205–206). Die Demokratie ist eine gesellschaftliche Praxis, die sich nicht auf die Rituale von Wahlkämpfen beschränkt. Auch NGOs, Intellektuelle, Gewerkschaften oder soziale Bewegungen sind Teil des politischen Prozesses.

Dass der indirekte Nachfolger von Michel Foucault und Pierre Bourdieu am Collège de France bisher wenig als politischer Theoretiker wahrgenommen wurde hat vielfältige Ursachen. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Wissenschaften hat bisweilen dazu geführt, dass selbst die Teildisziplinen innerhalb eines Faches unterschiedliche Terminologien entwickelt haben und sich immer weniger gegenseitig rezipieren (S. 62). Dies hat zur Folge, dass Denkerinnen und Denker, die sich zwischen den Disziplinen bewegen, weniger Gehör bei ihren Fachkolleginnen und Fachkollegen an der Universität finden. Darüber hinaus wird die Politische Theorie von normativen Ansätzen in der Traditionslinie von John Rawls und Jürgen Habermas dominiert, während die Ideengeschichte immer mehr unter Rechtfertigungsdruck geraten ist (S. 76).

Hinzu kommt, dass Rosanvallon seine Thesen vor allem unter Rückgriff auf die französische Demokratieerfahrung ab 1789 begründet. Samuel Moyn weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass mit den geopolitischen Verschiebungen nach 1989 das Interesse an Frankreich jedoch stark nachgelassen habe. Darüber hinaus habe mit dem Ende jeglicher linker Emanzipationsprojekte die Französische Revolution in der öffentlichen Wahrnehmung an Bedeutung verloren. Während die französische Geschichte mit ihren zahlreichen Brüchen früher als eine Art Versuchslabor für die Moderne galt, betrachteten sie viele nunmehr nur noch als einen lokalen Sonderfall (S. 220).

Mit dem Sammelband möchten die Herausgeberin und die Herausgeber Rosanvallons Wirken als politischer Theoretiker würdigen. Das breite Themenspektrum beweist, dass Rosanvallons Werk viele Ansatzpunkte für ein besseres Verständnis der gegenwärtigen Krise liberaler Demokratien bietet. So erörtert Paula Diehl in ihrem Beitrag das Verhältnis von Populismus und Demokratie. Sie ist sich mit Rosanvallon einig, dass die repräsentative Demokratie zwangsläufig instabil ist und deshalb permanent der Gefahr des Populismus ausgesetzt ist (S. 47).

Im Gegensatz zu Rosanvallon zieht sie jedoch eine schärfere Trennlinie zwischen linkem und rechtem Populismus: Während linker Populismus ihrer Auffassung nach integrierend wirkt, grenzt rechter Populismus aus. Linker Populismus wendet sich an alle Individuen, die er im Widerstand gegen bestimmte Herrschaftsstrukturen vereinen will. Rechter Populismus richtet sich hingegen sowohl gegen die Eliten, als auch gegen einen vermeintlichen äußeren Feind, der einen homogenen Volkskörper bedroht. Zudem differenziert Diehl stärker zwischen Populismus und Totalitarismus. Im Gegensatz zum Populismus durchdringt der Totalitarismus die Gesellschaft als Ganzes. Auch können totalitäre Herrscher nicht mehr abgewählt werden, während sich Populisten Wahlen unterwerfen müssen (S. 57–58).

Einen bedeutenden Stellenwert in Rosanvallons Werk nimmt die Frage der sozialen Ungleichheit ein. In »La Société des égaux« (2011) beschreibt dieser, wie die wachsende Ungleichheit in den westlichen Industrieländern die Demokratie als eine Form sozialer Praxis unterhöhlt. Rechtsstaatlichkeit und formale Gleichberechtigung allein sind laut Rosanvallon noch keine hinreichenden Bedingungen für eine lebendige Demokratie (S. 168). Als Grund für die Erosion des sozialen Gefüges in diesen Ländern macht er die Schwächung der Legislative zugunsten der Exekutive aus. Diese Tendenz hängt ihm zufolge stark mit der Verlagerung politischer Entscheidungen auf die zwischenstaatliche Ebene zusammen, die anschließend nur noch von den nationalen Parlamenten abgesegnet werden (S. 69).

Seit seinem Engagement in der sozialistischen Splitterpartei PSU und der Gewerkschaft CFDT in den 1970er-Jahren beschäftigt sich Rosanvallon mit der Frage, wie Demokratie über den regelmäßigen Wahlgang hinaus gelebt werden kann. Als Wegbereiter von François Furet wurde Rosanvallon in der angelsächsischen Welt bisweilen für einen Liberalen gehalten, obwohl er sich selbst stets als Sozialisten bezeichnet hat. Tatsächlich hat er sich lange Jahre intensiv mit dem politischen Liberalismus des 18. Jahrhunderts und den Ursprüngen des modernen Ideals individueller Autonomie beschäftigt2. Doch scheint auch in seinen neueren Schriften der Einfluss linker Autoren wie Cornelius Castoriadis, Henri Lefebvre oder André Gorz durch. Für Rosanvallon ist es an der Zeit, die Begriffe Sozialismus und Demokratie zusammen zu denken und mit neuem Leben zu erfüllen (S. 71).

In den vielen Monografien, die Rosanvallon über vier Jahrzehnte hinweg verfasst hat, schlägt er verschiedene Wege zur Revitalisierung der Demokratie vor. Zum einen die Erweiterung der parlamentarischen Demokratie durch die Demokratisierung der Arbeit. So war Rosanvallon in den 1970er-Jahren ein einflussreicher Verfechter der Arbeiterselbstverwaltung (S. 112). Zum anderen sollen die Bürger auf lokaler Ebene über Wahlen hinaus im Alltag stärker an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Dafür schlägt er Räte vor, die die gewählten Politiker kontrollieren sollen (S. 193). Zudem können die Sozialwissenschaften und die Literatur der Gesellschaft helfen, sich besser zu verstehen. Sie können den vielfältigen Lebenslagen ein Gesicht geben und so der Heterogenität heutiger Gesellschaften Rechnung tragen (S. 113).

Zweifelsfrei bringen diese konkreten Lösungsvorschläge zahlreiche Probleme mit sich, wie auch verschiedene Autoren in dem Band anmerken. Es erscheint fraglich, ob Rosanvallons Ansätze im Zeitalter des Neoliberalismus weit genug gehen. Doch führt der Sammelband eindrücklich vor Augen, wie ergiebig die Kombination aus Geschichte und Philosophie sein kann. In seinen Werken knüpft Rosanvallon an Debatten an, die sich in den 1970er-Jahren als sehr fruchtbar erwiesen haben und die es wiederzuentdecken gilt. In seinen neueren Büchern liefert er etwa interessante Denkanstöße für eine partizipative Stadtpolitik, die es wert wären, diskutiert und weitergedacht zu werden. Es wäre wünschenswert, wenn der vorliegende Band auch in Deutschland eine breitere Diskussion der politischen Thesen Rosanvallons anstoßen würde, die sich für Verfechterinnen und Verfechter eines offenen und experimentellen Demokratieverständnisses in der Tradition der neueren Frankfurter Schule als durchaus anschlussfähig erweisen könnten.

1 Siehe dazu: Samuel Moyn, Concepts of the Political in Twentieth-Century European Thought, in: Jens Meierhenrich, Oliver Simons (Hg.), The Oxford Handbook of Carl Schmitt, New York 2016, S. 291–311.
2 Vgl. Pierre Rosanvallon, Notre histoire intellectuelle et politique 1968–2018, Paris 2018, S. 111.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sebastian Jutisz, Rezension von/compte rendu de: Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen, Stephen W. Sawyer, Daniel Schulz (ed.), Pierre Rosanvallon’s Political Thought. Interdisciplinary Approaches, Bielefeld (Bielefeld University Press) 2019, 248 p., ISBN 978-3-8376-4652-8, EUR 39,99., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71638