Matthias Gemählich beginnt seine gut geschriebene Untersuchung mit einer paradoxen Beobachtung: Obwohl Frankreich sich selbst als Mutterland der Menschenrechte sieht und es deswegen auch gegen Ende der neunziger Jahre die Gründung eines permanenten Internationalen Strafgerichts energisch vorantrieb, ist der französische Beitrag zu den Gerichtshöfen in Nürnberg und Tokio in der nationalen Politik und Öffentlichkeit kaum noch präsent. Statt einer erinnerungskulturellen Vereinnahmung, wie sie sich jedes Jahr anlässlich der offiziellen Feierlichkeiten zur alliierten Landung in der Normandie besichtigen lässt, findet im Umgang mit dem Erbe des Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunals ein »merkwürdiges Ausblenden der eigenen Mitwirkung und ein Überlassen der Deutungshoheit an andere« statt, so Gemählich (S. 15).

Mit seiner Studie möchte der Autor den tieferliegenden Ursachen der von ihm konstatierten »Geschichtsvergessenheit« auf die Spur kommen (S. 14). Doch will er ebenso einer vereinfachenden, auch heute noch sehr geläufigen Perspektive auf das Nürnberger Vier-Mächte-Tribunal entgegentreten. Diese Erzählung betont die tragende Rolle von Amerikanern und Briten bei der Planung, Konzeption und Umsetzung des Unternehmens und weist den Franzosen die Rolle von Statisten zu. Vor diesem Hintergrund beabsichtigt die Arbeit eine grundsätzliche Neubewertung des französischen Anteils am IMT. So soll auf der Grundlage neu erschlossener Quellen und im Rahmen einer transnationalen Verflechtungsgeschichte gezeigt werden, dass sich der französische Beitrag keineswegs in bloßer Zuarbeit zu einem inhaltlich bereits weitgehend feststehenden angelsächsischen Anklageplan erschöpfte und französische Juristen in allen entscheidenden Phasen an der Ausgestaltung beteiligten waren.

Um das ebenso verschlungene wie ambivalente Verhältnis zwischen der Vierten Republik und dem Nürnberger IMT in allen Facetten zu durchleuchten, hat sich der Autor tief in staatliche Aktenbestände, Quelleneditionen, private Nachlässe, Fachzeitschriften, Pressesammlungen und die umfangreiche Memoirenliteratur eingearbeitet. Neben den relevanten Unterlagen aus dem Außen- und Justizministerium stützt sich die Untersuchung vor allem auf die Personalakten der zwölf führenden Delegationsangehörigen, die allerdings noch einer Sperrfrist unterliegen und nur durch eine Sondergenehmigung zugänglich wurden. Für die Rekonstruktion der geheimen Beratungen im Richterkollegium konnte der Autor, außer auf die publizierten Notizen des französischen Richters Robert Falco, auch auf die Aufzeichnungen des amerikanischen Richters Francis Biddle zurückgreifen.

Gemählich hat sich dafür entschieden, seinen Untersuchungsgegenstand in vier Etappen und entlang der bekannten chronologischen Daten abzuschreiten. So setzt das erste Kapitel mit der Anfang 1942 stattfindenden Konferenz im Londoner St. James Palace ein. Das Treffen kann als der Beginn einer eigenständigen französischen Kriegsverbrecherpolitik gelten, legte sich France libre doch bei dieser Gelegenheit unmissverständlich auf einen juristischen Umgang mit deutschen Kriegs- und Besatzungsverbrechen fest. De Gaulles strikt legalistischer Kurs, den Gemählich zu Recht als eine Besonderheit und Konstante der französischen Politik herausstellt, beinhaltete unterschiedliche Dimensionen. So ging es den Angehörigen von France libre nicht nur darum, die eigene verfassungsmäßige Legitimität in Abgrenzung zum Pétain-Regime zu unterstreichen, sondern auch einen staatsrechtlichen Autoritätsanspruch für die Zeit nach der deutschen Niederlage anzumelden. Unter dem Einfluss des renommierten Juristen René Cassin sprachen sich die Gaullisten daher noch während des Krieges gegen kollektive Repressalien und quasi-gerichtliche Schnellverfahren, für ordentliche Gerichtsprozesse sowie für eine restriktive Asylpraxis gegenüber Kriegsverbrechern aus.

Wie der Autor im zweiten Abschnitt zeigt, war der Einstieg Frankreichs in das interalliierte Kriegsverbrecherprogramm von zahlreichen Schwierigkeiten und Rückschlägen begleitet. Obwohl die neue Pariser Regierung das Vorhaben grundsätzlich als Bekräftigung der eigenen Position begrüßte, zog sich das französische Außenministerium frühzeitig von dem Projekt zurück. Dies war nicht zuletzt eine Reaktion darauf, dass die USA trotz kritischer Einwände an der beabsichtigten Kriminalisierung von Angriffskriegen auf der Grundlage des Kellogg-Briand-Pakts festhielten. Wegen des institutionellen Wechsels vom Außen- zum Justizministerium gerieten die Franzosen bei der Vorbereitung für das IMT alsbald ins Hintertreffen.

So versäumte man es nicht nur, sich rechtzeitig um die Rekrutierung von geeignetem juristischen Fachpersonal zu kümmern, sondern auch die Suche und Auswertung von Beweismitteln blieben während der Sommermonate des Jahres 1945 weitgehend auf der Strecke. Vor dem Hintergrund des engen Zeitrahmens war es umso bemerkenswerter, dass es dem federführenden Justizministerium bis zum Prozessbeginn gelang, 62 Mitarbeiter nach Nürnberg zu entsenden. Laut Gemählich war die französische damit zur Jahreswende 1945/46 die zweitgrößte unter den alliierten Delegationen (S. 98). Die strukturell dominierende Anklagebehörde bestand überwiegend aus erfahrenen Berufsjuristen, die aus allen politischen Lagern stammten und vor 1945 vielfach in der Résistance gewesen waren.

Das dritte Kapitel widmet sich dann in umfassender Weise dem französischen Beitrag zur Anklageerhebung. Laut alliierter Absprachen war den Franzosen die Aufgabe übertragen worden, den Nachweise deutscher Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen in den west- und nordeuropäischen Ländern zu führen. Zur Sprache kamen dabei unter anderem das Zwangsarbeiterprogramm, die massenhafte Verschleppung und Deportationen in die Vernichtungs- und Konzentrationslager sowie die Plünderung und Zerstörung von Kulturgütern. Leider behandelt Gemählich die geistesgeschichtliche Sonderwegsthese nur äußerst knapp, so wie er auch die französischen Deutungen zu Judenverfolgung, Widerstand und Kollaboration nur am Rande streift.

Das vierte und letzte Kapitel geht auf die Rolle der französischen Richter Henry Donnedieu de Vabres und dessen Stellvertreter Falco bei der Urteilsfindung ein. Hier kann der Autor überzeugend herausarbeiten, wie sich der – ansonsten zumeist schweigende – de Vabres in der letzten Prozessphase zum unbeirrbaren Gegner des amerikanischen »Verschwörungskonzepts« aufschwang. Zum nicht geringen Erstaunen seiner Richterkollegen bekannte er sich außerdem abermals zum Kollektivschuldprinzip. Der Autor zählt daher de Vabres’ sprichwörtliche Milde in Verbindung mit Inkonsistenzen in der französischen Rechtsposition zu denjenigen Faktoren, die dazu beitrugen, dass die Nürnberger Urteile nicht nur in kommunistischen Kreisen mit großer Empörung aufgenommen wurden. Die weitreichenden Schlussfolgerungen dieses Kapitels wecken jedoch teilweise Zweifel an Gemählichs Analyserahmen. So haben beispielsweise die Forschungen von Christoph Kalter zur französischen Neuen Linken gezeigt, dass die erinnerungskulturellen Repräsentationen Nürnbergs insgesamt viel heterogener, transnationaler und positiver ausfielen als es hier geschildert wird.

Matthias Gemählichs materialreiche, auf stupender Aktenkenntnis beruhende Studie löst ihren Anspruch, den französischen IMT-Beitrag empirisch auf ein neues Fundament zu stellen, in vollem Umfang ein. Sie ist Grundlagenforschung im besten Sinne, indem sie die Geschichte der vierten Nürnberger Delegation erstmals in ihrer gesamten Breite erzählt. Auch künftige Untersuchungen zur offiziellen Geschichte des IMT werden daher um diese Arbeit nicht herumkommen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Annette Weinke, Rezension von/compte rendu de: Matthias Gemählich, Frankreich und der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46, Berlin, Bern, Wien (Peter Lang) 2018, 391 S. (Transformationen – Differenzierungen – Perspektiven. Mainzer Studien zur Neuzeit, 2), ISBN 978-3-631-76189-2, EUR 69,95., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71641