Es ist oft eine Gratwanderung, wenn sich Historiker und Historikerinnen zu aktuellen Geschehnissen äußern. Einerseits gehört die Gegenwart per Definition nicht zu ihrem Fachgebiet, andererseits verspricht die geschichtsgesättigte Gelehrsamkeit Einblicke in tieferliegende Bewegkräfte der Welt, die dem tagesaktuellen Blick verborgen bleiben müssen. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an »Empires of the Mind«, das neue Buch von Robert Gildea. Der Autor gehört zu den renommiertesten Forschern zur Geschichte Frankreichs, der breit rezipierte Bücher zum Napoleonischen Zeitalter und zum Widerstand gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs sowie zur 68er Bewegung verfasst hat. Diese Arbeiten zeichneten sich stets dadurch aus, dass sie die französische Geschichte von außen und konsequent unter vergleichender Perspektive betrachteten.

Gildea befeuert die Erwartungen an sein neuestes Werk bereits in dessen Einleitung, in dem er direkt auf die Gegenwart verweist und mit starken Thesen aufwartet. Mit Zitaten von Boris Johnson und Emmanuel Macron beginnt das Buch und spannt einen weiten Analyseraum auf zwischen den Bedeutungsfeldern von Empire und Imperialismus als Orte nostalgischer Verklärung und humanitärer Anklage, als Ressourcen national-identitärer Erbauung und Ursprung anhaltender gesellschaftlicher Konflikte und globaler Ungleichheit.

Die »Imperien des Geistes« begreift Robert Gildea als Dämonen und Geister, welche Großbritannien und Frankreich in Gestalt von Größenwahn und Rassismus, aber auch in Gestalt von Verlustangst und Minderwertigkeitskomplexen bis heute heimsuchen.

Nach einer fulminanten Einleitung breitet Gildea über die folgenden drei Kapitel hinweg die Geschichte des britischen und französischen Imperialismus aus, von der Eroberung über die beiden Weltkriege bis zur Dekolonisierung. Diese Darstellung ist umfassend und konzis, bleibt dabei aber etwas oberflächlich. Etwas allzu atemlos reiht der Autor hier Ereignisse, Daten und Namen auf und verzichtet zugunsten einer chronologischen Darstellung auf eine analytische oder argumentative Ordnungsstruktur. Auch auf die jüngeren Debatten und Literatur in diesem Bereich geht Gildea hier kaum ein.

Im vierten Kapitel diskutiert Gildea die Transformation von direkter kolonialer Kontrolle zu informelleren Formen der Verbindung und Einflussnahme in Konzepten wie »Françafrique« und »Commonwealth«.

In den Kapiteln 5, 6 und 7 nimmt das Buch dann erheblich an Fahrt auf. Zunächst führt Gildea in Kapitel 5 eine Konstellation ein, auf die er im Rest des Buches immer wieder zurückkommt: die Immigration aus den ehemaligen Kolonien in die ehemaligen Mutterländer und Metropolen (vor allem London und Paris) und das Amalgam aus kolonialer Nostalgie und rassistisch gefärbtem Nationalismus dort. Hier wird die tiefere Bedeutung des Buchtitels greifbar. Für das britische Beispiel zeichnet der Autor nach, wie bereits die erste Generation karibischer Migrantinnen und Migranten (die »Windrush-Generation«, benannt nach dem Schiff, mit dem sie in England anlandeten) auf neu gegründete rechts-nationale und zum Teil offen rassistische Bewegungen trafen. Dem folgt eine Schilderung der schwierigen Bedingungen und Anfeindungen, mit denen sich sowohl die ehemaligen europäischen Siedler Algeriens nach ihrer Flucht nach Frankreich, als auch die Angehörigen nordafrikanischer Hilfstruppen konfrontiert sahen.

Kapitel 6 erläutert den zweiten großen Komplex, der die ehemaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich verfolgt: ihr Verhältnis zum geeinten Europa. Auf knappstem Raum schildert Gildea hier, wie die Idee der europäischen Integration in beiden Ländern auf erbitterten Widerstand traf und wie dieser Widerstand immer wieder die vergangene imperiale Größe beschwor. So arbeitet Gildea überzeugend heraus, dass Le Pens Front National in Frankreich und die britische UKIP ihre aggressive Kritik an Einwanderung und den rassistisch unterfütterten Nationalismus stets mit kolonialer Nostalgie verbinden.

Kapitel 7 schließlich führt den dritten Dämon ein, den die ehemaligen Imperialmächte nach Gildeas Verständnis selbst geweckt hatten und der sie nun nicht mehr loslässt: der militante Islamismus. Auf wenigen Seiten eilt der Autor von der Islamischen Revolution im Iran über die sowjetische Invasion in Afghanistan bis zum ersten Golfkrieg und dem Bürgerkrieg in Algerien. Der Komplexität dieser Ereignisse, ihrer transnationalen Dynamik und ihrer anhaltenden Folgen kann er damit freilich nicht gerecht werden. Auch gibt er keinen Hinweis darauf, wo genau er die Verbindungen zu Großbritannien, Frankreich und ihrem imperialen Erbe sieht. Eine solche Verbindungslinie wird lediglich suggeriert, indem das Kapitel mit der Auseinandersetzung um Salman Rushdies »Satanische Verse« in England und der Kopftuch-Kontroverse in Frankreich schließt. In diesen Debatten glaubt Gildea zu erkennen, wie sich die Integrationskraft des Bürgerrechts angesichts breit erfahrener Ausgrenzung innerhalb der migrantischen Gemeinschaften in England und Frankreich zersetzte und dafür das Identifikationsangebot des Islam an Kraft gewann.

Das achte Kapitel setzt mit dem 11. September 2001 und dem darauffolgenden »War on Terror« ein. Diesen beschriebt Gildea schlicht als neues imperiales Projekt, an dem sich – wie etwa beim Angriff auf den Irak 2003 – die Briten mit Verve, die Franzosen eher mit Zurückhaltung beteiligen. Diesem neuen imperialen Projekt stellt Robert Gildea vier große Herausforderungen gegenüber, die er als Nemesis 1–4 nummeriert: das Debakel der Irak-Invasion, den islamistischen Terror in Europa, die Zurückweisung der Europäischen Verfassung und schließlich die globale Finanzkrise von 2008. Die von diesen Herausforderungen ausgehenden Zersetzungen verfolgt der Autor in Kapitel 9 weiter, das kurioserweise mit »The Empire strikes back« betitelt ist. Auch hier vermengt Robert Gildea komplexe Ereignisse miteinander, ohne Kausalbeziehungen ausreichend zu markieren: den sogenannten Arabischen Frühling mit dem Syrienkrieg, den Aufstieg des selbst ernannten Islamischen Staates, die Flüchtlingsbewegungen nach Europa und schließlich den Brexit.

Der Brexit, gegen den Gildea auch in sozialen Medien mit Verve eintritt, ist Gegenstand des letzten Kapitels. Hier zeichnet der Autor das Bild einer zutiefst unaufrichtigen politischen Elite in Großbritannien, die durch eine bewusste Beschwörung vergangener imperialer Größe im Verbund mit einem anachronistischen Bild englischer Kultur und Tugend das Brexit-Referendum und das knappe Votum zum Austritt aus der Europäischen Union herbeiführte. Dem stellt er ein verstörend wohlwollendes Portrait der Politik des jungen französischen Präsidenten Emmanuel Macron gegenüber, der es in Gildeas Lesart verstanden habe, sich von der kolonialen Vergangenheit glaubhaft zu distanzieren und die Vision einer stärkeren Rolle Frankreichs in der Welt innerhalb der EU zu entwickeln.

Robert Gildeas «Empires of the Mind« ist weniger eine historische Analyse als eine historisch argumentierende Abrechnung mit Ignoranz, Dummheit und einer auf Xenophobie basierten Politik. Es ist das Werk eines empörten Intellektuellen und leidenschaftlichen Europäers. Die rhetorische Kraft dieser Abhandlung und der weite historische Bogen des Buches werden es verdientermaßen einer breiten Leserschaft zuführen. Eine Fachrezension ist jedoch nicht der Ort, sich mit den politischen Werten und Folgerungen eines Buches auseinanderzusetzen. Konzepte und Begriffe hingegen, als wichtigste Werkzeuge der Geschichtswissenschaft und elementare Säulen jeder historischen Interpretation, verdienen eine kritische Würdigung. Drei analytische Entscheidungen in Gildeas Buch erscheinen als problematisch: die Verknüpfung zwischen Immigration und Kolonialismus; die Verknüpfung von Islamismus und Antikolonialismus; die Verknüpfung migrantischer Gruppen in Europa und dem militanten Islam.

Wenn Gildea etwa in der Überschrift des fünften Kapitels die Migration von Menschen aus den ehemaligen Kolonien nach Großbritannien als »Colonising in Reverse« bezeichnet, zitiert er zwar eine Zeile der jamaikanisch-stämmigen Dichterin Louise Bennett, er greift jedoch gleichzeitig genau jenen fremdenfeindlichen Topos auf, dem eigentlich seine Kritik gilt. Durch die »imperiale Brille« betrachtet muss Gildea genau wie den von ihm angegriffenen Kolonialnostalgikern Migration als direkte Folge des Kolonialismus gelten. So gerät das Eigeninteresse des Nachkriegs-Englands an einer Immigration billiger Arbeitskräfte genauso aus dem Blick wie der Zuzug von Fachkräften als Folge der Deregulierungspolitik Thatchers, oder der nicht unerhebliche Teil von Migranten aus nicht-kolonialen Teilen der Welt, oder auch die Niederlassung internationaler Eliten in der City of London.

Zweitens unterstellt Robert Gildea bisweilen eine etwas undifferenzierte Verknüpfung zwischen militantem Islamismus und Antikolonialismus. Damit wird er weder der Komplexität des Phänomens und seiner historischen Genese, noch dem mittlerweile beachtlichen Forschungsstand dazu gerecht. Gildeas Buch blendet somit nicht nur die vielfältigen nicht-religiösen Motivationen für antikoloniale Politik aus, sondern auch die zum Teil sehr dezidierten gesellschaftspolitischen Forderungen des militanten Islam.

Gleiches trifft auf diese Verknüpfung in der Sphäre der ehemaligen Mutterländer zu, wenn Gildea die Hinwendung von jungen Männern migrantischer Herkunft zum Salafismus und militanten Islam als Reaktion auf eine »koloniale« Ausgrenzungs- und Repressionspolitik darstellt. Zunächst verstellt diese Verkürzung den Blick auf andere Gruppen mit migrantischem Hintergrund. Nicht alle sind junge Männer, nicht alle sind Muslime. Auch der Pauschalbegriff »Migranten« für die Nachfahren von Einwanderern in der vierten oder fünften Generation ist zu undifferenziert um analytischen Wert zu entfalten, ebenso wie der Begriff »host society«, der im Kontext und in direkter Nachbarschaft zu Darstellungen rassistischer Gewalt noch dazu ungewollt euphemistisch wirken kann.

Die hier formulierte Kritik an der Wahl und Verwendung von Begriffen betrifft, dies muss deutlich sein, weder die begründeten Sorgen und Anklagen in Robert Gildeas Buch, noch seine umfassende Belesenheit und Eloquenz. Sie zielt auf eine stärkere Ausdifferenzierung der Analyse, die dazu dienen kann, eine Argumentation zu stärken, die so zeitgemäß wie wichtig ist.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Moritz Feichtinger, Rezension von/compte rendu de: Robert Gildea, Empires of the Mind. The Colonial Past and the Politics of the Present, Cambridge (Cambridge University Press) 2019, VIII–358 p., 20 b/w ill., ISBN 978-1-107-15958-7, GBP 20,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71642