Mehr als ein halbes Jahrhundert musste vergehen, bevor sich bundesdeutsche Ministerien und Behörden kritisch mit der Vergangenheit ihrer Vorgängereinrichtungen im Nationalsozialismus zu beschäftigen begannen. Den Auftakt zur systematischen »Aufarbeitung« der Behördengeschichte im »Dritten Reich« markierte das Auswärtige Amt (AA), das 2005 eine unabhängige Historikerkommission einsetzte, um dessen Rolle im Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu erforschen. Die 2010 bzw. 2012 vorgelegten Ergebnisse lösten sogleich eine lebhafte öffentliche Debatte aus1. Dem Beispiel des AA folgten in den Folgejahren weitere bundesdeutsche Ministerien und Behörden2. Zu ihnen gehörte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das 2013 eine international besetzte »Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus« berief3.

Zu den inzwischen veröffentlichten Projektpublikationen – weitere sind angekündigt – gehört Swantje Greves Dissertationsschrift über das »System Sauckel«. Die in diesem Buch im Mittelpunkt stehende deutsche Arbeitskräftepolitik in der Ukraine zwischen 1942 und 1944 steht geradezu paradigmatisch für die Mitwirkung eines für die deutsche Kriegswirtschaft zentralen deutschen Ministeriums an der Ausplünderung von Ressourcen in den besetzten Gebieten insbesondere Osteuropas.

Im März 1942 war der Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel durch »Führererlass« zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) ernannt worden. Zu Recht räumt die Autorin dem Werdegang des frühen NS-Aktivisten, dem systematischen Ausbau seiner Machtposition und seinem weit reichenden persönlichen Netzwerk breiten Raum ein. Sie bildeten die Voraussetzung für dessen Ernennung. Ausführlich beschreibt Greve die Hintergründe und Folgen von Sauckels Beauftragung, die ihm bis Kriegsende eine Schlüsselrolle in der deutschen Arbeitskräftepolitik zuwies.

Überzeugend verortet Greve die Entscheidung für Sauckel in den Kontext der »arbeitspolitischen Wende« (S. 117) des NS-Regimes seit Herbst 1941, die wiederum aus Kriegsverlauf und akutem Arbeitskräftemangel resultierte. Mit diesem Schritt sollte die Rekrutierung von Arbeitskräften zentralisiert und effektiviert werden. Das war mit erheblichen Eingriffen in die Befugnisse anderer Behörden verbunden, insbesondere in die des Reichsarbeitsministeriums, in dessen Zuständigkeit die Arbeitsmarktpolitik bislang vorrangig gefallen war. Zwei seiner fünf Hauptabteilungen – die für Lohnpolitik und Arbeitsrecht zuständige Abteilung III sowie die für den »Arbeitseinsatz« zuständige Abteilung V mit ihren nachgeordneten Behörden (Reichstreuhänder der Arbeit, Landesarbeitsämter, Arbeitsämter) – wurden für die Dauer des Krieges direkt dem GBA unterstellt. Personal- und verwaltungspolitisch verblieben sie jedoch weiterhin beim RAM. Die neu geschaffenen Unterstellungsverhältnisse waren kompliziert und bargen erhebliches Konfliktpotential in sich. Trotzdem möchte die Autorin mit Blick auf das RAM nicht, wie bislang üblich, von einem »Rumpfministerium« sprechen (S. 142f.).

Lediglich der machtpolitisch ohnehin angeschlagene Minister Franz Seldte wurde, wie Greve schreibt, zu einem »ausführende[n] Organ der Wünsche Sauckels« (S. 144) degradiert. Für das Ministerium insgesamt sieht sie keinen realen Bedeutungsverlust, erwuchs doch aus der direkten Einbeziehung in das »System Sauckel« rasch eine enge, effektive, wenn auch nicht immer reibungslose Zusammenarbeit zwischen GBA und RAM, die dessen Wirkungsbereich eher erweiterte als einschränkte. Greve geht dieser Entwicklung in den Kernabschnitten ihrer Arbeit am Beispiel der Arbeitskräftepolitik in der Ukraine nach. Die frühere Sowjetrepublik war für die deutsche Kriegswirtschaft auf Grund ihrer landwirtschaftlichen und industriellen Ressourcen, aber auch wegen des vorhandenen »Arbeitskräfteangebots«, von besonderer Wichtigkeit. Im weiteren Verlauf des Krieges weitete sich die Zusammenarbeit beider Behörden, changierend zwischen »Kooperation und Konkurrenz« (S. 230ff.), auch auf Dienststellen der Wehrmacht, des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (Alfred Rosenberg) und der SS sowie lokale Besatzungsbehörden aus.

Auf breiter Quellenbasis – Grewe hat neben deutschen auch ukrainische Archive konsultiert – beschreibt die Autorin schließlich akribisch, wie sich diese Zusammenarbeit vor Ort konkret gestaltete. Gemeinsam organisierten GBA und RAM die Rekrutierung ziviler Arbeitskräfte durch die örtlichen Arbeitsämter oder mobile Arbeitseinsatzstäbe. Abgestimmt und ausgehandelt wurde das Vorgehen jedoch weiterhin von den zentralen Behörden in Berlin, wobei, wie Greve hervorhebt, gerade die Expertise des RAM hier ganz besonders gefragt war.

Nach den Kapiteln zur Etablierung der Arbeitsverwaltung und der Rekrutierungspraxis in der besetzten Ukraine 1941/1942 schildert Swantje Greve anschließend die Radikalisierung der Arbeitskräftepolitik, die spätestens mit den Zwangsverpflichtungen nach Geburtsjahrgängen ab Frühjahr 1943 jedem letzten Anschein von »Freiwilligkeit« de facto ein Ende setzte. Es kam zu einer »Eskalation der Gewalt« (S. 401); der brutale Charakter der Rekrutierungspraxis trat nun auch ganz offen zu Tage. Die erbärmlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, die die ukrainischen Zivil- und Zwangsarbeiter nach ihrer Ankunft in Deutschland erwarteten, sind nicht mehr Gegenstand der Arbeit. Das mag man bedauern, ist aber der täterbezogenen und behördengeschichtlichen Perspektive des Buches wie auch des Projektzusammenhanges insgesamt geschuldet. Den Gesamtertrag des Buches schmälert dies in keiner Weise.

Zu den Vorzügen des Buches gehört, dass Greve bei der detaillierten Schilderung der Arbeitskräfterekrutierungen in der Ukraine die Gesamtzusammenhänge der deutschen Arbeitskräftepolitik nie aus den Augen verliert. Sie vergleicht die Rekrutierungspraxis in der Ukraine mit der in anderen besetzten Gebieten Ost- und Westeuropas, benennt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede und Spezifika. Dabei diskutiert sie für die Zwangsarbeitsforschung so zentrale Fragen wie das Verhältnis von Vorgaben und Eigeninitiative, Eigendynamik vor Ort oder das Verhältnis von »Freiwilligkeit« und Zwang.

Mit ihrer klar gegliederten, abwägend argumentierenden und gut lesbaren Studie ist es Swantje Greve überzeugend gelungen, die intensive Mitwirkung eines Fachministeriums an der nationalsozialistischen Ausbeutungspolitik detailliert nachzuzeichnen. Die »verhängnisvolle Symbiose« zwischen einem »durchsetzungsstarke[n] Parteifunktionär« wie Sauckel und einer kooperationswilligen Ministerialverwaltung führte, wie Swantje Greve prägnant formuliert, »zu eben jener Effizienz« (S. 144), die die Zwangsrekrutierung von Millionen ausländischer Arbeitskräfte überhaupt erst ermöglichte.

1 Martin Sabrow, Christian Mentel (Hg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte, Frankfurt a. M. 2014.
2 Als Zwischenbilanz: Christian Mentel, Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, hg. von Frank Bösch, Martin Sabrow und Andreas Wirsching, München, Potsdam 2016.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jens Thiel, Rezension von/compte rendu de: Swantje Greve, Das »System Sauckel«. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und die Arbeitskräftepolitik in der besetzten Ukraine 1942–1945, Göttingen (Wallstein) 2019, 491 S., 25 Abb. (Geschichte des Reichsarbeitsministeriums im Nationalsozialismus), ISBN 978-3-8353-3413-7, EUR 39,90., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71644