Beim Großteil der NSDAP-Mitglieder muss es sich um »Mitläufer«, Zwangsrekrutierte oder gar um überzeugte Antifaschisten gehandelt haben. Diesen Eindruck erwecken zumindest die Rechtfertigungsschreiben und Persilscheine, die nach Kriegsende in den Nachfolgestaaten des »Dritten Reichs« kursierten. Auch die wissenschaftlichen Eliten, Universitätsprofessoren und ‑dozenten verbreiten diese Mär, waren doch gerade in ihren Reihen verhältnismäßig viele NS-belastet – so auch an der Universität Hamburg. Deren politischer »Säuberung« widmet sich der Historiker Anton Guhl in seiner hiermit publizierten Doktorarbeit.
Von den 220 Lehrenden, die bei Kriegsende im Personalstand verzeichnet waren, wurden mindestens 125 durch eine Entnazifizierungsmaßnahme relegiert. Das reichte von Pensionierungen und Suspendierungen bis hin zu Entlassungen. Und so präsentierte sich der Universität bei ihrer Wiedereröffnung am 6. November 1945 ein Rumpf-Lehrkörper mit nicht einmal 50 % der noch bei Kriegsende angestellten Professoren1. Bei den folgenden Bemühungen um eine Reintegration war weniger die tatsächliche NS-Belastung entscheidend als vielmehr – und diese Erkenntnis geht durchaus mit bisherigen Forschungsergebnissen d’accord2 – die kollegialen Verbindungen und persönlichen Netzwerke.
Die vermeintliche Wahrung von Standeswürde und Ehrgefühl in der NS-Zeit spielte eine ebenso bedeutende Rolle. Zugespitzt formuliert: Unkollegiales Verhalten in den Jahren bis 1945 erwies sich als nachteiliger als die Einnahme hoher Funktionen im NS-Regime (so kehrte etwa der 1941 bis 1945 amtierende Rektor Eduard Keeser im April 1946 zurück) oder die Beteiligung an NS-Medizinverbrechen. Unter diesen Voraussetzungen konnte aus einem ehemaligen Fakultätsführer des NS-Dozentenbundes (Hans Würdinger) durchaus ein »erbitterter Feind der Nazis« werden. Aber auch der Umstand, an welcher Universität sich jemand nationalsozialistisch exponiert hatte oder die Fakultätszugehörigkeit erwiesen sich oft als entscheidend für die Laufbahn nach Kriegsende.
Die Fakultäten rückt Guhl auch insofern in den Mittelpunkt, als er die Analyse entlang dieser vier – wie er sie nennt – Organisations- und Begegnungsräume anstellt. Die leitenden Funktionäre (die neuen Dekane wurden im Mai 1945 übrigens vom NS-Rektor bestätigt) wie auch der Anteil demokratischer Lehrkräfte hatten maßgeblichen und mitunter auch nachhaltigen Einfluss darauf, wie viele NS-belastete Wissenschaftler zurückkehren konnten. Die Weichen für den Einfluss dieser wie auch der Universität im Allgemeinen wurden kurz nach Kriegsende gestellt. Die Fakultäten unterteilten infolge eines Senatsbeschlusses und mithilfe eines universitätsinternen Fragebogens ihr wissenschaftliches Personal in drei Kategorien: »einwandfrei«, »zweifelhaft« und »negativ«. Das Verhältnis der drei Gruppen belief sich auf etwa 4:4:2, wobei sich die beiden ersten der Unterstützung der verbliebenen Professorenschaft sicher sein konnten.
Die britische Militärregierung nahm diese Kategorisierungen durchaus ernst, wie die Relegierungen bis August 1945 zeigen. Deren Ausmaß reichte von 41 % an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät bis hin zu 68 % an der Medizinischen Fakultät. Erst danach wurden die offiziellen Entnazifizierungsstrukturen geschaffen. An der grundlegenden Organisation änderte sich über die Jahre hinweg wenig: Ausschüsse an den Fakultäten (ab Sommer 1946 als »Beratende Ausschüsse«) sammelten Informationen auf Basis der Fragebögen und anderer Quellen und leiteten diese dem übergeordneten Gremium zu (ab Mitte 1946 dem Fachausschuss 6a unter der Leitung des Altphilologen Bruno Snell, später unter dem Anglisten Emil Wolff). Das letzte Wort hatte die britische Besatzungsmacht. Diese folgte aber öfter den Empfehlungen der außeruniversitären Berufungsausschüsse, die ebenso im Sommer 1946 eingerichtet worden waren und die Relegierten über Einspruchsmöglichkeiten informierten.
Mit der Übertragung der Entnazifizierungskompetenzen an deutsche Stellen im Mai 1947 beschleunigte sich das Tempo der Rehabilitierungen deutlich. Die treibende Kraft dahinter war aber nicht – wie vielleicht anzunehmen wäre – der mit Professoren besetzte Fachausschuss, sondern vielmehr der Berufungsausschuss, der nun Entscheidungsgewalt hatte. Tatsächlich wurden viele Professoren gegen den ausdrücklichen Willen der Fakultäten und der Fachausschüsse rehabilitiert, vor allem an der Philosophischen Fakultät. Eben diese sträubte sich im Übrigen zwei Jahrzehnte lang gegen eine ehrenvolle Emeritierung des von 1934 bis 1938 als Rektor amtierenden Adolf Rein.
Die Entnazifizierung bedeutete schließlich für 31 (Todesfälle inbegriffen) von 220 Hamburger Lehrenden – und damit ein Viertel der Relegierten – das Ende ihrer Zugehörigkeit zum Lehrkörper. Bei den Professoren waren es 13 von 83. Diese niedrige Ausschlussquote von insgesamt 14 % (Professoren: 16 %) war auch dadurch zustande gekommen, dass freie Stellen oft bewusst mit Lehraufträgen gefüllt wurden und Professuren vakant – und damit für die ehemaligen Stelleninhaber verfügbar – blieben. Um Emigranten bemühte man sich nur selten, am ehesten dann, wenn diese über hohes wissenschaftliches Renommee verfügten.
Die Arbeit von Anton Guhl hält schließlich eine Reihe interessanter Forschungsergebnisse parat. Hervorgehoben sei hier nochmals die (nachhaltige) Eigeninitiative der Fakultäten, aber auch der Umstand, dass deutsche Stellen zu jedem Zeitpunkt entscheidend an der Entnazifizierung mitwirkten. Eben dies bedeutete aber – gerade ab Mai 1947 – keineswegs einen Konsens, vor allem nicht zwischen Universität und Berufungsausschuss. Überdies arbeitet Guhl die Unterschiede zwischen formaler und tatsächlicher NS-Belastung gut heraus, ebenso, dass mitunter Zufälligkeiten für die NS-Belastung bei Kriegsende verantwortlich waren. Erstaunlich ist, dass falsche Angaben in den Fragebögen in der Regel folgenlos blieben.
Die Monografie wartet mit gut aufbereiteten biografischen Analysen zu de facto allen Hamburger Professoren wie auch einer Vielzahl von außerplanmäßigen und Honorar-Professoren sowie Dozenten auf. Eben dadurch verkommt das Buch aber in weiten Teilen zu einem biografischen Nachschlagewerk. Für die Leserin bzw. den Leser wäre es sicher aufschlussreicher gewesen, weniger Lehrende zu behandeln, stattdessen charakteristische Fälle herauszunehmen und das Buch entlang einzelner Fragestellungen aufzubauen. Auch eine Kollektivbiografie hätte sich durchaus angeboten. Außerdem vermisst man den Vergleich mit anderen Hochschulen und Besatzungszonen – wohlwissend, dass die Forschung in punkto Entnazifizierung der Universitäten noch einiges zu leisten hat.
Ein Blick über die Landesgrenze hinweg zeigt etwa, dass der Anteil von NSDAP-Mitgliedern und Anwärtern in der Professorenschaft der Universität Wien tatsächlich gleich hoch wie in Hamburg war (nämlich knapp drei Viertel), aber nur einem Drittel der ehemaligen Nationalsozialisten eine Rückkehr an diese Institution gelang.3 Derartige Divergenzen herauszuarbeiten und zu erklären, sollten Historiker und Historikerinnen künftig stärker in den Fokus rücken. Dabei werden sie an »Wege aus dem ›Dritten Reich‹«, das sich trotz der genannten Kritikpunkte allemal die Bezeichnung Standardwerk verdient hat, nicht vorbeikommen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Andreas Huber, Rezension von/compte rendu de: Anton F. Guhl, Wege aus dem »Dritten Reich«. Die Entnazifizierung der Hamburger Universität als ambivalente Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Göttingen (Wallstein) 2019, 477 S., zahlr. s/w Abb. (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 26), ISBN 978-3-8353-3468-7, EUR 46,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71645