Die Dissertation von Thomas Handschuhmacher schließt mit Bravour eine klaffende Lücke in der zeithistorischen Forschung zur alten Bundesrepublik. Mit erfrischend nüchtern-differenziertem Blick befasst sich der Autor mit den sich wandelnden Diskussionen um das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in der »Bonner Republik« zwischen 1949 und 1989. Methodisch schließt er damit an Ansätze einer »Kulturgeschichte des Politischen« an, die sich in Anschluss an Thomas Mergel oder Willibald Steinmetz für politische Kommunikationsprozesse und Semantiken interessieren; zugleich fokussiert die Studie mit dem Feld staatlicher Wirtschaftsaktivitäten ein »hartes« Feld politischer Konzeptionen, das auf die Arbeiten von Gabriele Metzler verweist.

Erklärtes Ziel des Buches ist mithin, eine historische Vorgeschichte der gegenwärtigen (Problem )Diskussionen zu erarbeiten, in denen – insbesondere auch infolge der Weltwirtschafts- und Finanzkrisen nach 2008 – diese Etappe zunehmend als langfristige Verfallsgeschichte »nach dem Boom« begriffen wird – nämlich als konzeptionelle Durchbruchsphase eines neuen, neoliberalen Zeitalters. Die Diskussionen um sowie die Praxis von »Entstaatlichungen« können dabei, wie Dietmar Süß vor einigen Jahren überzeugend herausgestellt hat, als zentrales Signum umfassender Umbrüche im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts historisiert werden.

Handschuhmacher geht in seiner Arbeit nun mit großer empirischer Sorgfalt den sich wandelnden Deutungs- und Redeweisen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft nach, indem er diese nicht als essenziellen ökonomischen, möglicherweise teleologisch gedeuteten Prozess, sondern vielmehr als ebenso offenes wie wandelbares »politisches Projekt« versteht. Seit Gründung der Bundesrepublik rangen Politiker, Ökonomen, Lobbyisten und Gewerkschaftsvertreter auf diesem Feld um entsprechende Deutungshoheit, wobei sich das umfassende Bedürfnis nach diskursiven Grenzziehungen zwischen Staat und Wirtschaft wie ein roter Faden durch die wechselvollen Jahrzehnte zieht.

Als empirische Grundlage dienen Handschuhmacher dementsprechend vor allem in politischen Kommunikationsräumen verfertigte und veröffentlichte Quellen wie Regierungspapiere und Plenarprotokolle sowie ökonomische Expertengutachten, Fachpresseartikel oder Sachbücher. Analysiert werden damit bundesdeutsche Expertendiskurse und deren spezifische Begriffsfelder und Semantiken, die jedoch bisweilen weitreichende öffentliche Wellen schlagen konnten: Das permanente Reden über »Verstaatlichungen« oder »Entstaatlichungen« berührte nicht zuletzt das nach 1949 durchaus noch prekäre ökonomische Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik und der bald diskursiv omnipräsenten »sozialen Marktwirtschaft«.

Die Arbeit entfaltet ihre Analysen in drei Schritten, die in chronologischer Abfolge wesentliche Entwicklungsschritte in den Entstaatlichungsdiskussionen herausarbeiten. Der erste Teil fokussiert die Debatten der 1950er-Jahre im Kontext eines sich entfaltenden ordoliberalen Grundmusters. Prominente Vertreter einer »Ordnungspolitik« wie Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard oder sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack propagierten – beflügelt durch einen bald einsetzenden, kräftigen Nachkriegsboom – die Vorzüge der »Sozialen Marktwirtschaft«. Der Staat hatte sich in dieser liberalkonservativen Lesart, wie Handschuhmacher zeigen kann, als passiver »Schiedsrichter« auf eine »Rahmung« des ökonomischen Geschehens zu konzentrieren – und konnte daher nicht zugleich aktiver Spieler sein. Eben dieses Verständnis eines umfassenden »Wettbewerbs«, der sich – ohne staatliche Verzerrungen – letztlich in einen idealen Gleichgewichtszustand einschwingen würde, prägte auch die Diskussion um »soziale Privatisierungen«: Anders als etwa in Frankreich oder Großbritannien, standen die Zeichen in der frühen Bundesrepublik auf eine Entsozialisierung von in Staatsbesitz befindlichen Unternehmen, die der junge Staat aus der Erbmasse des NS-Regimes erhalten hatte. Am Beispiel der Diskussionen um eine Privatisierung des Volkswagenwerks und hiermit verbundener Hoffnungen auf die Etablierung einer »Volksaktie« wird dieses Themenfeld vertieft.

Dieser ordoliberale Impetus eines weitgehenden Rückzuges des Staates aus der Wirtschaft geriet indes seit Mitte der 1960er-Jahre erheblich unter Druck, wie im zweiten Teil der Arbeit gezeigt wird. Im zunehmend verbreiteten Glauben an eine umfassende staatliche »Gestaltbarkeit« oder gar »Planbarkeit« wirtschaftlicher Zyklen setzte die sozialliberale Bundesregierung unter dem Eindruck einer nach 1973 dramatisch wahrgenommenen »Energiekrise« auf die Rückverstaatlichung des zuvor privatisierten Energieunternehmens VEBA, um auf diese Weise einen »nationalen Mineralölkonzern« aufbauen zu können. Für diesen Zeitabschnitt konzediert Handschuhmacher in Anschluss an Eckart Conze und Christopher Daase eine markante »Versicherheitlichung« der ökonomischen Diskussionen, die die ordnungspolitischen Erwägungen zeitweise zugunsten keynesianischer Steuerungsansätze aus energiesicherheitspolitischen Erwägungen in den Hintergrund rücken ließ, wie Handschuhmacher im Anschluss an Rüdiger Graf argumentiert.

Doch bereits Mitte der 1970er-Jahre war es vor allem die seit 1969 oppositionelle CDU, die die Diskussionen um funktionale Privatisierungen vor allem auf kommunaler Ebene aufs Neue eröffnete. Nicht zuletzt das Scheitern der von Bundeskanzler Helmut Schmidt betriebenen Versuche, einen staatlichen Energiekonzern aufzubauen, lassen die 1970er-Jahre als eigentümliche Zwischen- oder Scharnierphase im hier untersuchten Diskursfeld erscheinen.

Im dritten Teil, der sich mit den 1980er-Jahren befasst, avanciert die »Entstaatlichung« zu einem zentralen politischen Debattenfeld. Die 1982 angetretene christliberale Koalition unter Helmut Kohl schürte dabei zunächst umfassende Erwartungen: Ideenpolitisch erschien dies als eigentümliche Kombination aus einer ordnungspolitischen Renaissance einer idealisierten »Sozialen Marktwirtschaft«, die sich zugleich mit einer grundlegenden Revision vor allem des Wettbewerbsdenkens verband. Der Wettbewerb erschien nun nicht mehr als harmonischer Gleichgewichtszustand, sondern in Anschluss an August von Hayek als hochdynamischer Prozess, ja als produktiv-destruktives »Entdeckungsverfahren« im zunehmend international gedachten »Standortwettbewerb«; »Wirtschaftswunder« und »Weltwirtschaftswettbewerb« bildeten so zwei Seiten einer Medaille. Es erwies sich für die Bundesregierung jedoch in der Praxis als äußerst schwierig, diese Kombination aus idealisiert-verklärter Vergangenheit und dynamisch-kompetitiven Zukunftsversprechen im föderalen Alltag der Bundesrepublik rasch in konkrete Projekte zu übersetzen.

Am Beispiel der ersten »Postreform« kann der Autor überzeugend zeigen, warum gegen Ende der 1980er-Jahre die Ernüchterung im christliberalen Lager wuchs: Den Staat auf den »Kern« seiner Aufgaben zurückzuführen, »Bürokratie« abzubauen und zugleich durch dynamische »Märkte« zu ersetzen, erwies sich als langwieriges und kleinteiliges Verhandlungsgeschäft, gerade weil dabei mit der Bundespost ein Unternehmen betroffen war, das in den zeitgenössischen Debatten als entscheidender Schlüsselakteur bei der digitalen Transformation in eine neue »Informationsgesellschaft« gedeutet wurde. Entsprechend groß erschien kurz vor dem Mauerfall auch die »Diskrepanz« zwischen weitreichenden Erwartungen und den wenigen umfassend realisierten Privatisierungsprojekten.

Es ist eine besondere Eigenart derartiger Pionierstudien, dass sie zu vielfältigen Nachfragen anregen. Und auch dieses ungemein dichte Buch zeichnet sich durch zahlreiche Anschlussmöglichkeiten aus: So spielen etwa die Gegner und Kritiker jenseits der engeren Fach- und Expertenzirkel eine vergleichsweise randständige Rolle; auch eine weiterführende Sondierung politisch-ideologischer Rahmungen hätte das Profil der Arbeit zusätzlich geschärft. Zudem wäre interessant, wie sich diese Diskussionen nicht nur mit Blick gen Westen – also vorwiegend gen Großbritannien, USA oder Frankreich – sondern auch in Abgrenzung zum zentralplanwirtschaftlichen wie realsozialistischen Osten, insbesondere der DDR, entfaltet haben.

Von dieser Arbeit gleichermaßen auch noch ein Schlaglicht in die turbulenten 1990er-Jahre mit ihren dramatischen post-sozialistischen Privatisierungsprozessen zu erwarten, wäre indes sicher überzogen. Dennoch zeigen sich hier hochgradig interessante, langfristige mentale Kontinuitäten und Verbindungslinien, die sowohl auf ideeller wie auf personeller Ebene die Geschichte der »Bonner Republik« mit derjenigen der »Berliner Republik« verknüpfen können. In dieser Lesart gelingt es Handschuhmacher geradezu mustergültig, das ideenpolitisch-konzeptionelle »Marschgepäck« zu beschreiben, mit dem sich zahlreiche Westexperten nach 1990 an die rasche Aufzucht »blühender Landschaften« im Osten machten (um dort in der Praxis oft ungeahnte Überraschungen und herbe Enttäuschungen zu erleben).

Dass das Reden über die Rolle »des« Staates in »der« Wirtschaft ein entscheidender »diskursiver Knotenpunkt« (S. 74) in der Bundesrepublik gewesen ist, erscheint nach der gewinnbringenden Lektüre hochgradig evident. Dass Handschuhmacher dieses Feld als politkommunikatives Projekt einer »auf Dauer gestellte Verheißung« (S. 297) beschreibt und sich so retrospektiven Teleologien oder ökonomistischen Alternativlosigkeiten konsequent verweigert, ist sicher als besondere Stärke dieses Buches hervorzuheben. Methodisch kann er dabei akribisch wie quellenah die Spezifik des wirtschaftspolitischen Sprechens herausarbeiten und die semantischen »Leerformeln« analysieren, denen gerade ihr sprachliches Oszillieren zwischen »Verbindlichkeit und »Uneindeutigkeit« (S. 312) besondere diskursive Wirkmächtigkeit verlieh. In der konsequenten Historisierung der Geschichte der »langfristigen Formulierung und Umdeutung staatlicher Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche« (S. 303) und ihrer sich verschiebenden Grenzziehungen in der Bonner Republik hat Handschuhmacher eine eklatante Leerstelle in der zeithistorischen Forschung mit Bravour geschlossen. Indes: »Was soll und kann der Staat noch leisten« – diese emblematische Kernfrage scheint uns auch in der Zukunft weiter intensiv zu beschäftigen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Marcus Böick, Rezension von/compte rendu de: Thomas Handschuhmacher, »Was soll und kann der Staat noch leisten?« Eine politische Geschichte der Privatisierung in der Bundesrepublik 1949–1989, Göttingen 2018, 352 S. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 231), ISBN 978-3-525-35593-0, 65,00 EUR., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71647