Was bringt Menschen dazu, nicht einzugreifen oder sogar wegzusehen, wenn andere vor ihren Augen bedroht oder angegriffen werden? Diese Frage beschäftigt Sozialpsychologen seit Jahrzehnten. Für Historikerinnen und Historiker war der sogenannte Bystander hingegen lange Zeit kein Thema.
Nun ist ihm ein Sammelband gewidmet, in dem die Rolle der »gewöhnlichen Leute« beim Holocaust untersucht wird. Der Band geht auf eine Tagung in den Niederlanden zurück, in deren Zentrum das sogenannte niederländische Paradox stand: Die Frage, warum in den Niederlanden, wo der Antisemitismus nicht sonderlich stark ausgeprägt war und Toleranz zum nationalen Selbstverständnis gehörte, 75 % der Juden unter der deutschen Besatzung ermordet wurden – ein weit höherer Anteil als in jedem anderen westeuropäischen Land. Die Beiträge in dem Band gehen jedoch über dieses Beispiel weit hinaus, versuchen die Rolle der Bystander genauer zu definieren.
Den Begriff »bystander« hat Raul Hilberg Mitte der 1980er-Jahre in die Holocaustforschung eingeführt, um neben Tätern und Opfern eine dritte Gruppe von Beteiligten zu benennen. Doch hatte er, ebenso wie wenig später der kanadische Holocaustforscher Michael Marrus mit seiner dreibändigen Aufsatzsammlung, vor allem Staaten und Institutionen im Blick. Im Fokus standen die Alliierten sowie die Regierungen neutraler Staaten, die Kirchen oder die jüdischen Organisationen, also all jene, die vom Judenmord wussten und ihn nicht verhinderten – sei es aus Machtlosigkeit, politischer Fehleinschätzung, Indifferenz oder Kalkül.
In der jüngeren Diskussion sind hingegen mit Bystander vor allem Menschen in den deutsch besetzten Gebieten gemeint, die Zeugen der Judenverfolgung wurden. Schon Hilberg hatte, so René Schlott, ein Unbehagen über den unklaren Begriff artikuliert. Die meisten Autorinnen und Autoren des Sammelbandes teilen dieses. Ob sie nun das Konzept »Bystander« für moralisch überfrachtet oder für analytisch untauglich halten, in ihren durchweg lesenswerten Beiträgen sind sie alle um eine differenzierte Untersuchung des dahinterstehenden Phänomens bemüht.
Die meisten Artikel stimmen darin überein, dass der Bystander, selbst wenn er sich passiv verhält, Teil einer Konfliktsituation sei. Mary Fulbrook weist ebenso wie Roma Sendyka darauf hin, dass die Rolle des Bystanders als sozialer Prozess begriffen werden müsse, in dem sich innere Haltungen und Handlungsoptionen auch verändern, Außenstehende zu Tätern aber auch zu Rettern werden könnten. Timothy Williams entwirft eine Typologie des Verhaltens der Täter, Bystander und Retter. Es geht ihm nicht darum, Personen zu etikettieren, sondern ihre Handlungen zu analysieren und die Grauzonen zwischen der Anordnung zum Massenmord und der Verhinderung desselben auszuleuchten, sei es im Holocaust oder in anderen Genoziden. Froukje Demant rekurriert auf den Begriff der kognitiven Dissonanz, um diese Grauzonen zu analysieren: Während Bystander anfangs der Ausgrenzung der Opfer möglicherweise nur aufgrund von Gruppendruck oder der Angst vor eigenem Prestigeverlust stillschweigend zusehen, übernehmen sie im Laufe der Zeit die neue Norm und vertreten sie schließlich auch offensiv, schon allein um das eigene Mitmachen zu rechtfertigen.
Christoph Kreutzmüller zeigt anhand von Fotos, die während des Novemberpogroms in Baden-Baden aufgenommen wurden, dass die Bystander unabhängig von ihrer inneren Haltung in die Verfolgung der Juden involviert waren: Indem sie die Straßen säumten, durch die die verhafteten Juden abgeführt wurden, erschwerten sie deren Flucht, vor allem aber trugen sie durch ihr Zuschauen zur Erniedrigung der Verfolgten bei.
Mehrere Beiträge beziehen sich auf die Diskussion, die das Buch von Bart van der Boom ausgelöst hat. Der niederländische Historiker hatte die These vertreten, dass die Nichtjuden das wahre Ziel der Deportationen nicht gekannt und deswegen den Juden nicht geholfen hätten. Im vorliegenden Band vergleicht van der Boom die Situation in den Niederlanden mit derjenigen in Dänemark, wo die meisten Juden durch eine spektakuläre Rettungsaktion auf Fischerbooten nach Schweden gebracht wurden. Gleichwohl sei das Verhalten der »Zuschauer« in beiden Ländern nicht grundsätzlich verschieden, so van der Boom. Die Niederländer hätten im Unterschied zu den Dänen die deutschen Besatzer als äußerst brutal erlebt, das Risiko des Untertauchens entsprechend hoch bewertet und bei Beginn der Deportationen im Sommer 1942 – anders als die Dänen ein Jahr später – noch keine Kenntnis von den Vernichtungslagern gehabt.
Dem hält u. a. Krijn Thijs entgegen, dass die niederländischen Nichtjuden auch ohne von den Mordfabriken zu wissen, die tödliche Bedrohung für die Juden hätten erkennen können. Zudem sei nicht erwiesen, dass sie bei besserer Informationslage bereit gewesen wären, ihre jüdischen Mitbürger zu schützen. Remco Ensel und Evelien Gans argumentieren gegen van der Boom ähnlich und verweisen dabei ebenfalls auf die kognitive Dissonanz: Nichtjuden unterdrückten das eigene schlechte Gewissen, nicht geholfen zu haben, in dem sie selbst die antijüdischen Maßnahmen als gerechtfertigt deklarierten. Dieser Mechanismus wirkte nach Kriegsende weiter im von Adorno so bezeichneten Schuld- und Erinnerungsabwehrantisemitismus.
Das Gegenstück zum niederländischen Paradox untersucht Jacques Semelin: In Frankreich überlebten trotz des weit verbreiteten Antisemitismus 75 % der Juden. Semelin, der als einziger die Bystander in einer positiven Rolle sieht, betont ihre spontane Hilfeleistung, die sich oft in kleinen, für die Verfolgten manchmal lebensrettenden Gesten geäußert habe: einer rechtzeitigen Warnung vor einer Razzia, einer Lebensmittelspende oder dem Verzicht auf Denunziation. Er stützt sich dabei auf die Tagebücher von Verfolgten. Doch anders als Christina Morina in ihrem Beitrag zieht er nicht in Erwägung, dass die sozial isolierten Juden freundliche Gesten überbewerteten, um das Gefühl des Ausgestoßenseins zu kompensieren.
Jan Grabowski erinnert daran, dass die Bystander im besetzten Polen nicht behaupten konnten, von der Vernichtung keine Kenntnis zu haben. Sie seien sehr oft keineswegs indifferent gewesen, sondern hätten auf die eine oder andere Weise an der Verfolgung mitgewirkt, so dass die Überlebenschancen für polnische Juden noch weit geringer waren als für niederländische. Grabowski geht denn auch davon aus, dass der Begriff »Bystander« das »Dilemma derjenigen Leute, die zwischen der deutschen Tötungsmaschine und den verzweifelten jüdischen Opfern gefangen waren« (S. 200), eher vernebelt als analysiert. Solchen Nebel haben sich nach Kriegsende in Deutschland manche Bystander zunutze gemacht, die den Tätern deutlich näher standen als den Opfern: Adam Knowles untersucht das Verhalten Martin Heideggers, der sich selbst in der Rolle des Mitläufers sah. Susanne C. Knittel lotet die Handlungsspielräume von Lina Heydrich und Thea Stangl aus, zweier Ehefrauen hoher SS-Funktionäre, denen die klassischen weiblichen Rollenklischees geholfen haben, sich selbst als Unbeteiligte ohne Einflussmöglichkeit zu stilisieren.
In der Regel sind Tagungsbände von durchwachsener Qualität und eine eher langweilige Lektüre. Dieser jedoch zeigt in jedem Beitrag neue Facetten der komplexen Rolle der Bystander auf, stellt neue Fragen und trägt so dazu bei, das analytische Instrumentarium der Genozidforschung zu erweitern.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Susanne Heim, Rezension von/compte rendu de: Christina Morina, Krijn Thijs, Probing the Limits of Categorization. The Bystander in Holocaust History, New York, Oxford (Berghahn) 2019, 364 p., ISBN 978-1-78920-093-5, USD 130,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71653