Mit »Individualisme. Une enquête sur les sources du mot« hat Marie-France Piguet nach »Classe. Histoire du mot et genèse du concept. Des physiocrates aux historiens de la Restauration« (Lyon 1996)1 ihre zweite Monografie zur Geschichte eines Grundbegriffs der politischen Philosophie und Sozialwissenschaften vorgelegt. Piguets Schrift steht in der Kontinuität des Forschungsprogramms zur Rekonstruktion politischer Wortgeschichten, das in den 1980er- und in den 1990er-Jahren u. a. prominent von Alain Rey2 und dem Laboratoire Lexicométrie et textes politiques an der ENS Saint-Cloud weiterentwickelt wurde. Gemeinsam mit Jacques Guilhaumou ist sie die Herausgeberin eines Bandes des »Dictionnaire des usages socio-politiques 1770–1815« (2003) und einer Sonderausgabe der Zeitschrift «Mots. Les langages des politiques« (2002)3.

Wie der Titel ihres neuen Buches bereits besagt, geht es darin um den Entstehungsmoment und die frühe Geschichte der Bedeutung des Wortes »Individualismus«. Ziel der Untersuchung ist es, verdeckte Spuren und verblasste Bedeutungsgehalte dieses ubiquitär verwendeten Begriffs unserer Alltagssprache freizulegen. Der Text richtet sich dabei nicht primär an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern will – auch durch die schöne Einbandillustration von Jean-Jacques Sempé – eher eine breitere akademische Öffentlichkeit ansprechen.

Im Zentrum des Buches von Piguet steht die Faktizität der Worte selbst. Die verschiedenen Kapitel des 177 Seiten leichten Buches betrachten das Wort »Individualismus« von seinem multivalenten Entstehungsmoment bis zur ersten begrifflichen Konsolidierung. Methode dieser Wortgeschichte ist die Semasiologie, auf die sich Piguet im Anschluss an Arbeiten des Linguisten und Semiotikers Émile Benveniste beruft. Die Wissenschaft von den Bedeutungen (semasia), erklärt uns Piguet, untersuche vor allem die Entstehung von »lexikalischen Neuheiten« ausgehend von deren anfänglichen Bedeutungsgehalten. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Bestimmung des Entstehungsmoments eines Lexems. Mithilfe des »Trésor de la langue française informatisé« kann sie diesen relativ präzise bestimmen. Das Wort »Individualismus« erblickt um das Jahr 1825 in Frankreich das Licht der Welt. Es gehört zu den mithilfe des Suffix -ismus konstruierten Worten, die vor allem im 19. Jahrhundert sehr produktiv zur Entstehung »abstrakter Substantive« wie Liberalismus (1818), Industrialismus (1824) oder Sozialismus (1830) beitragen (S. 17). In den 1830er wandert Individualismus dann im Zuge der Debatten um die soziale Frage zunächst in den deutschen (1831) und englischen Sprachraum ein (1834). Da sich Piguet ausschließlich dem französischen Ursprung des Wortes widmet, werden die Bedeutungsgeschichten des Wortes in den anderen europäischen Sprachen ausgeblendet.

Erste Belegstellen für die Geburt des Wortes findet Piguet in den Debatten zwischen Akteuren der Groupe de Coppet (Benjamin Constant, Alexis de Tocqueville), den Doctrinaires (François Guizot, Victor Cousin), dem sich formierenden Saint-Simonismus (Prosper Enfantin) und Sozialismus (Pierre-Henri Leroux). Neben diesen vielfach in der Forschung diskutierten Texten, deckt sie allerdings auch bislang verborgene Spuren der Wortentstehung auf. Für die Entstehungsgeschichte des Wortes besonders interessant sind die Zwischenformen indivuelisme/individuellisme, die Piguet in den Considérations sur une année de l'histoire de France des Baron Frénilly aus dem Jahr 1815 vorfindet (S. 24).

Innerhalb der Textbelege rekonstruiert Piguet die Bedeutung von Individualismus anhand der unterschiedlichen Wortkonstellationen, die es anfänglich bestimmten. Das »semantische Beziehungsgefüge«, in dem der Bedeutungswandel von Individualismus lokalisiert wird, bilden die Worte Egoismus, Individualität, Assoziation, Sozialismus und Isolation. Den jeweiligen semantischen Verflechtungen von Individualismus sind die einzelnen Kapitel des Buches gewidmet. Aus welchem Grund gerade diese Worte zur Bedeutungsbestimmung von Indvidualismus privilegiert sind (naheliegen würde auch moi, empire de soi-même, personnalité, intimité etc.), wird von der Autorin nicht weiter begründet.

Um die Stoßrichtung der Semasiologie als Spielart der historischen Semantik besser zu fassen, scheint es hilfreich zu sein, sie von dem zu unterscheiden, was im deutschen Sprachraum gewöhnlich unter Begriffsgeschichte verstanden wird. Hierbei hilft ein kurzer Seitenblick auf das Verhältnis von Erfahrung und Sprache, wie es z. B. dem Projekt der »Geschichtliche[n] Grundbegriffe« zugrunde liegt. Reinhard Koselleck hat vorgeschlagen, die Prägung und Verbreitung der »ismus«-Begriffe seit dem 18. Jahrhundert als »Aktions-und Bewegungsbegriffe der Neuzeit« zu verstehen. Ihr Charakteristikum bestünde darin, zur Zeit ihrer Prägung »keinen Erfahrungsgehalt« jenseits der spezifischen »psychischen Disposition ihrer Verwender« zu besitzen. Ihren Gehalt würden diese Begriffe »erst im Zuge der politischen Kämpfe« und des Ringens um Verwirklichung theoretischer Erwartungen ausprägen4. Im Unterschied zur Begriffsgeschichte, die Sprache als »Indikator« wie auch als Instrument zur Gestaltung »außersprachlicher Umbruchserfahrung«5 untersucht, steht beim semasiologischen Ansatz die Dynamik der Sprache und der Wörter selbst, das Eigenleben und die Logik des Textes (logique du texte) im Vordergrund. Die Motivation dieses Forschungsansatzes besteht darin, die »gesamte Geschichte des modernen Denkens und die wichtigsten Errungenschaften der intellektuellen Kultur in der westlichen Welt« auf die »Schaffung und den Umgang mit einigen Dutzend wesentlicher Wörter« zu reduzieren6. Wörter seien der »Ariadnefaden« an dem entlang die »Geschichte der Gesellschaft und ihre Wandlungen« erkundet werden könnten7.

Auch wenn der Text ausdrücklich der Annahme fester Wortbedeutungen und eindeutiger Ursprünge widerspricht (S. 10), so spricht aus solcher Metaphorik allemal eine Faszination für das Projekt republikanischer Spracherziehung, die im selbstbewussten Gebrauch des Denkinstruments Sprache den Grund emanzipatorischer Gesellschaftstransformation erkennt. Sprachliche Selbstbestimmung ist der Ausgang aus dem Labyrinth der Unmündigkeit am Ariadnefaden der Semasiologie. In diesem Sinne hatte bereits Constantin François Volney in seinen »Leçons d’histoire« 1795, zu Beginn der Ersten Republik die Sprachen als »Konstruktionen« aufgefasst, die in sich »die vollständige Geschichte jedes Volkes« bargen und »deren Verflechtungen und Analogien den Ariadnefaden im Labyrinth des Ursprungs« bildeten8.

Als eine Spielart der historischen Semantik kommt der semasiologische Ansatz somit ohne die anthropologischen Begründungsklammer Erfahrung/Erwartung aus, die das Projekt der »Geschichtliche[n] Grundbegriffe« voraussetzt. Der Fokus auf die Eigenlogik der Sprache kommt im Text von Piguet als ein spielerisches und ungezwungenes Arrangement von Quellentexten zum Ausdruck. Hier liegt zugleich Gewinn wie auch Mangel des Buches. Wer sich für ein gelehrtes Debatten-Panorama der politischen Philosophie in Frankreich von 1820 bis 1840 interessiert, findet reichliches Quellenmaterial. Wer auf eine Diskussion oder Interpretation des von ihr Zitierten hofft oder eine Positionierung von Methodologie und Zielsetzung in Hinblick auf andere Formen historischer Semantik erwartet, wird enttäuscht. Auch finden sich keine Überlegungen, wie ein solch wortfixiert-semasiologischer Ansatz mit den Fragen nach Bildlichkeit und Materialität des Wissens kompatibel sein könnte, die seit einigen Jahren den Geltungsanspruch der Diskursanalyse hinterfragen.

Das eigentliche Manko des Buches liegt aber nicht in Forschungsdetails oder fehlender Rezeption. Was schwerer wiegt, ist, dass das kritische Potential der Semasiologie – das ohne Zweifel im Hintergrund steht – nicht zum Ausdruck kommt. Eine Geschichte politischer Gegenwartsbegriffe, die an keiner Stelle auf gegenwärtige Begriffskrisen eingeht und sich nicht zum politischen Kampf um Bedeutung positioniert, läuft Gefahr – im besten Fall – selbst unbedeutend zu sein. Die »Unruhe« im Kern des Individualismus, von der Piguet zuweilen spricht, ähnelt der unschuldigen, ja erwartungsvollen Unruhe der frühen 1990er-Jahre. Im Moment neuer Blüte autoritären Liberalismus‘ wirkt sie so fast beruhigend.

1 Marie-France Piguet, Classe. Histoire du mot et genèse du concept. Des physiocrates aux historiens de la Restauration, Lyon 1996.
2 Alain Rey, Révolution. Histoire d’un mot. Paris 1989.
3 Jacques Guilhaumou, Marie-France Piguet (Hg.), Présentation, in: dies. (Hg.), Mots. Les langages du politique 69 (2002); dies., Notions théoriques, in: Dictionnaire des usages socio-politiques 1770–1815, fasc. 7, Paris 2003.
4 Reinhard Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 69.
5 Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmuster, München 2001 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 50), S. 27.
6 Piguet, Classe (wie Anm. 1), S. 6.
7 Marie-France Piguet, Individualisme. Une enquête sur les sources du mot, Paris 2018, S. 9.
8 Constantin François Volney, Leçons d’histoire [1795], in: Œuvres complètes. Paris 1838, S. 561–596, hier S. 588.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Martin Herrnstadt, Rezension von/compte rendu de: Marie-France Piguet, Individualisme. Une enquête sur les sources du mot, Paris (CNRS Éditions) 2018, 194 p., ISBN 978-2-271-09523-7, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71654