Der vorliegende Sammelband, die Dokumentation einer Tagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung, die im Oktober 2018 unter demselben Titel stattfand, greift das seit einigen Jahren wieder zunehmende Interesse an der Geschichte der Lebensreformbewegung auf, das sich in neuerer Zeit in mehreren Überblicksdarstellungen äußerte1. Begann die historische Forschung zur Lebensreform in den 1970er-Jahren nicht zuletzt aus dem Bedürfnis, die Wurzeln der eigenen, entstehenden Alternativkultur (wieder-)zu entdecken, so wird diese Alternativkultur der 1970er- und 1980er-Jahre nun selbst historisiert und auf Gemeinsamkeiten, Unterschiede und direkte Kontinuitätslinien zur alten Lebensreform befragt. Mit dem diachronen Vergleich eröffnet der Band daher eine Perspektive, die in einigen Arbeiten der vergangenen Jahre2 zwar angelegt ist, aber explizit erst einmal Gegenstand einer Tagung zum Vergleich der Lebensreform mit der heutigen globalisierungskritischen Bewegung wurde3.

Der Band eröffnet mit einem Beitrag Sven Reichardts, der die beiden Phänomene der Lebensreform und des Alternativmilieus als Ausdruck der Kulturkritik in Phasen besonders verdichteter gesellschaftlicher Reflexivität zu Beginn und Ende der »Hochmoderne« (nach Ulrich Herbert) deutet und damit die Leitperspektive des Bandes einführt: das Verhältnis der Bewegungen zu Moderne und Modernität. Anschließend untersuchen elf Beiträge, gruppiert in die Kategorien der Modernitäts- und der Wissenschaftskritik, der alternativen Ernährung und Reformwirtschaft, der Sexualität sowie der kulturellen Ausdrucksformen jeweils im diachronen Vergleich einzelne Aspekte der beiden Bewegungen. Diese stehen in verschiedener Hinsicht in gemeinsamen Traditionslinien.

So ordnen die Beiträge Elija Horns sowie Bernadett Bigalkes die intensive Indien- bzw. Asienrezeption der beiden Bewegungen in seit der Romantik bestehende orientalistische Traditionen ein. Auch die Idealisierung des »Primitiven«, wie sie in lebensreformerischen Romanen ebenso wie im Boom einer alternativen Ethnologie in den 1970er-Jahren zum Ausdruck kam, stellt eine Kontinuität zwischen beiden Bewegungen dar, so Rosa Eidelpes in ihrem Beitrag zur ethnologischen Gegenkultur. Ebenso liegt, wie Joachim C. Häberlen argumentiert, in der Kritik an der Rationalität der Moderne eine zentrale Gemeinsamkeit der gegenkulturellen Reformer.

Ähnlichkeiten auf der Ebene der Phänomene bedeuten jedoch nicht zwangsläufig direkte Kontinuitäten und Vermittlungswege zwischen den beiden Bewegungen. Wo diese untersucht werden, zeigen sich unerwartet viele Brüche. So interpretiert Gunter Mahlerwein die alternative Deutschfolkbewegung der 1970er-Jahre eher als deutsche Variante des internationalen Folkrevivals denn als direkte Tradition der alten Jugendbewegung und zeigt bedeutende Brüche auf, die vor allem auf die NS-Belastung des jugendbewegten Erbes zurückzuführen sind.

Nadine Zberg vergleicht in ihrem Beitrag die Stadtkritik in der Schweiz um 1900 und 1980. Die Alternativbewegung der 1980er-Jahre versuchte, ihre Vision einer »natürlichen« Stadt in eben den Mietskasernenvierteln der Gründerzeit zu verwirklichen, die der Lebensreform gerade als Ausdruck der großstädtischen »Steinwüste« galten. Dies lag, so Zberg, an unterschiedlichen Naturbildern: Die Gartenstadtbewegung konzipierte Natur als geordneten »Garten«, die Alternativbewegung jedoch als »chaotisch«. Durch die Analyse der stadtkritischen Diskurse gelingt es der Autorin überzeugend, die Unterschiede in der Praxis der Bewegungen mit ihren übereinstimmenden Motiven zu vermitteln. Eva Lochers Beitrag zur »Interaktion zwischen alten Lebensreformern und jungen Alternativen in der Schweiz« fällt etwas aus dem Schema des Bandes heraus, denn er stellt die beiden Bewegungen nicht diachron, sondern synchron gegenüber. In der Schweiz gab es, anders als in Deutschland, in den 1970er-Jahren synchrone Transferprozesse zwischen Angehörigen der beiden Reformgenerationen. Obwohl dieser Kontakt relativ konfliktfrei geschah und einen intensiven Wissenstransfer ermöglichte, blieben beide Milieus geschieden; die Organisationen der alten Lebensreform profitierten nicht vom Aufschwung alternativer Lebenskonzepte.

So besteht das interessanteste Ergebnis des Bandes in der Feststellung, dass trotz »frappierender Ähnlichkeiten« auf der Ebene der Phänomene (S. 21) die direkten Transferprozesse und diachronen Kontinuitäten zwischen beiden Bewegungen eine untergeordnete Rolle spielen. Dagegen scheint transnationalen Transferprozessen eine bedeutende Rolle zuzukommen, wobei die transnationale Einbettung der Bewegungen das bis heute wichtigste Forschungsdesiderat darstellt.

Der Vergleich zwischen Alternativmilieu und Lebensreform erweist sich als ertragreich, wobei die Beiträge immer dann besonders überzeugen, wenn sie die Unterschiede zwischen den Bewegungen untersuchen und für diese kausale Erklärungen anbieten, statt sie lediglich zu konstatieren. Die Gemeinsamkeiten sind augenfällig; erklärungsbedürftig ist dagegen, warum sich die Bewegungen trotz ähnlicher Motivlage in Hinblick auf ihre soziale Zusammensetzung, ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft und vor allem in ihren politischen Präferenzen unterscheiden. Insbesondere der letzte Punkt wird in mehreren Beiträgen zwar angesprochen, aber kaum erklärt: wie kam es zur relativ unstrittigen Zuordnung des Alternativmilieus der 1980er-Jahre zur Linken, während die Lebensreform politisch zumindest vielfältig, wenn nicht stark von völkischen und nationalen Positionen durchdrungen war, wenn doch beide Bewegungen in ihrer Aufbruchsstimmung, der Vision der Schaffung eines Neuen Menschen und der Kritik an einer entfremdeten Moderne aus ähnlichen Motivationen entstanden?

Insgesamt überzeugt der Ansatz, Lebensreform- und Alternativbewegung in eine Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen und die Bewegungen als Ausdruck eines Unbehagens in einer sich verändernden Moderne zu deuten. Mutmaßlich ergeben sich weitere Erkenntnisse, wenn die Bewegungen stärker in ihren transnationalen Verflechtungen untersucht und erzählt werden. Es erstaunt freilich, dass – obwohl die Herausgeber die transnationale Perspektive explizit als Desiderat darstellen – die umfangreiche französische Forschung zur Lebensreform kaum rezipiert wurde und keine personellen Überschneidungen zwischen dieser und der eingangs erwähnten französischen Konferenz von 2016 zum Verhältnis von Lebensreform und Globalisierungskritik bestehen.

1 Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017; Marc Cluet (Hg.), »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Tübingen 2013.
2 Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006 sowie aktuell ein an der Universität Fribourg (Schweiz) angesiedeltes Forschungsprojekt zur Geschichte der Lebensreform in der Schweiz im 20. Jahrhundert.
3 Siehe dazu: Catherine Repoussard (Hg.): De la Lebensreform à l’altermondialisme. Métamorphoses de l’alternativité? Recherches germaniques 11 (2016), online unter: https://journals.openedition.org/rg/838.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Johannes Bosch, Rezension von/compte rendu de: Detlef Siegfried, David Templin (Hg.), Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert, Göttingen (V&R unipress) 2019, 429 S., 15 Abb. (Jugendbewegung und Jugendkulturen, 15), ISBN 978-3-8471-1012-5, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71655