»Auch der Verein für Hamburgische Geschichte (VHG) hat lange Zeit vermieden, sein größtes Versagen zu thematisieren«, konstatiert der aktuelle Vereinsvorsitzende im Vorwort des Buches. Damit rückt er die Studie explizit in den Kontext der Bewältigungs- und Aufarbeitungsforschung zum Umgang von Ministerien und Parlamenten mit der NS-Vergangenheit, deren Konjunktur noch nicht vorüber ist. Auch von Verlagsseite wird das umfängliche Werk als »erste kritische Detailstudie zur NS-Geschichte eines deutschen Geschichtsvereins« beworben.

Der Umschlag des ansprechend designten Buches unterstreicht die Publikationsstrategie einer selbstkritischen historischen Nabelschau des Hamburger Geschichtsvereins: Vor die abschattierte Aufnahme einer Vereinsfeier vom April 1929, auf der sich eine um einen weiß gedeckten langen Tisch zum Festmahl versammelte ältere Herrenrunde und einige wenige Vereinsdamen dem Fotografen zuwenden, haben die Buchgestalter eine schriftliche Aufstellung der von »der Mitgliederliste gestrichenen« Vereinsgenossen vom 5. Februar 1938 gesetzt. Neben den verstorbenen oder aus anderen Gründen ausgeschiedenen Mitgliedern enthält das abgebildete Dokument einige mit einem »J« gekennzeichnete Namen derjenigen Personen, die den Verein aufgrund ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit oder »Abstammung« verlassen mussten.

Ob außer kommerziellen auch inhaltliche Motive dafür ausschlaggebend waren, dass die ursprünglich auf den Zeitraum von 1912 bis 1974 angelegte (und online abrufbare) Dissertation zur Geschichte des Hamburger Geschichtsvereins für die gekürzte Buchfassung von 700 Seiten »auf die Teile über die NS-Zeit samt zusammengefasster Vor- und Nachgeschichte« (S. 10) reduziert wurde, lässt sich auch nach der Lektüre nicht abschließend beantworten1. In jedem Fall aber verschiebt sich so der Akzent auf die Rolle und die Haltung des Geschichtsvereins gegenüber den Erwartungen und Anforderungen der von Nationalsozialisten besetzten Innen- und Kulturverwaltung sowie den durch diese kontrollierten Kulturorganisationen.

Dem Autor geht es ersichtlich darum, Querverbindungen und Netzwerke der Zusammenarbeit zwischen Vereinsfunktionären und NS-Funktionsträgern aufzuzeigen sowie Spuren der ideologischen Kontamination des Vereinslebens zu erkunden. Dabei wird nicht wirklich deutlich, welche Kriterien für Zusammenarbeit, ja Kollaboration (!), gelten sollen, sieht man von solch eindeutigen Handlungen wie der Aufnahme des »Führerprinzips« und eines erst relativ spät eingefügten »Arierparagrafen« in die Vereinsstatuten einmal ab. Erschien das Entdemokratisieren der Selbstverwaltung insbesondere bei Vorstandswahlen den Vereinsoberen so praktikabel, dass man das »Führerprinzip« auch nach 1945 noch Jahre beibehielt, verhielt man sich bei der Entfernung der jüdischen Vereinsmitglieder mehr hinhaltend-passiv als eilfertig. Insgesamt aber, dieser Eindruck drängt sich auf, konnte der Verein für Hamburgische Geschichte ein weitgehend unbehelligtes, fast unbeachtetes Dasein unter der NS-Herrschaft fristen.

Plausibel erscheint die zentrale These des Autors, dass ein »bürgerlich-akademisch geprägtes Standesbewusstsein« die »Führungskräfte« des VHG vor allzu großer Anpassung und Dienstbarkeit gegenüber den NS-Eliten bewahrte. Man könnte diese Beobachtung dahingehend ergänzen, dass der Verein für die Durchsetzung von Herrschaft und Loyalität im lokalen Machtkosmos des Hamburger Gauleiters Karl Kaufmann nicht benötigt wurde und man deshalb weitgehend ungestört mit den gewohnten Vereinsaktivitäten fortfahren konnte – schließlich habe, so der Autor, keine »real existierende Bedrohung« des Vereins bestanden (S. 301). Substanzielle Einschränkungen hatte der VHG dagegen aufgrund des zunehmenden kriegsbedingten Materialmangels, insbesondere bei Papier, hinzunehmen, und über Vereinsgebäude und Bibliothek schwebte ständig die Gefahr der Zerstörung durch den Luftkrieg. Das Ressourcenmanagement funktionierte aufgrund guter Beziehungen zwischen Verein und NS-Verwaltung dennoch so gut, dass der Verein sich auf die erforderlichen Papierzuteilungen und Druckgenehmigungen zur Aufrechterhaltung der Publikationstätigkeit stets verlassen konnte.

Neben solchen für eine Sozial- und Alltagsgeschichte städtischen Vereinslebens unter Kriegsbedingungen wichtigen Ergebnissen liegt der größte Erkenntnisgewinn der Arbeit in der sorgfältigen Rekonstruktion der Verhaltens- und Anpassungsstrategien eines bürgerlichen Geschichtsvereins. Zwar führt von der Auswertung der Publikationen, der Vortrags- und Exkursionsprogramme des Vereins kein direkter Weg zu den »bürgerlichen Geschichtswelten im Nationalsozialismus« im Allgemeinen, denn über die bis zu 800 Personen starke Vereinsmitgliedschaft der 1930er-/1940er-Jahre ist bis auf das soziale Herkunfts- und Tätigkeitsprofil wenig zu erfahren. Im Fokus der Untersuchung stehen stattdessen die Vorstandsmitglieder und deren überregionale Korrespondenten-Netzwerke, in denen – wie bei anderen Geschichtsvereinen auch – beamtete Staatsarchivare und Berufshistoriker besonders stark vertreten waren. Fraglos aber wirkten die exponierten Vereinsfunktionäre an der öffentlichen Inszenierung einer identitätsstiftenden »Gedächtnis- und Erinnerungskultur« der Stadt entscheidend mit.

Dies gilt vor allem für jene Vereinsvorstände, die, wie Kurt Detlev Möller (1937/1938 Vereinsvorsitzender) oder Heinrich Reincke (als Direktor des Staatsarchivs 1945 von der britischen Militärregierung abgesetzt), im Hauptberuf beamtete Archivräte waren und damit quasi als offizielle Stadthistoriker Hamburgs agierten. Einige von ihnen waren nach 1945 an dem von Frank Bajohr, Axel Schildt und anderen Historikern bereits beschriebenen Prozess der kreativen Erfindung einer »Hamburg-Legende« aktiv beteiligt. Deren Kern bestand in der historischen Erzählung von der liberalen Bürgerkultur und freistädtischen Tradition Hamburgs, die zugleich eine Erklärung anbot, weshalb es der Stadt angeblich gelungen war, sich gegen eine ideologische Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus weitgehend zu imprägnieren.

Auf der Grundlage des vereinsinternen und des privaten Schriftwechsels zwischen den Konstrukteuren und Verwaltern dieses Hamburg-Narratives liefert Gunnar B. Zimmermann eine lesenswerte und gut geschriebene Studie über den essentiellen Beitrag einiger prominenter Hamburger Berufshistoriker zur lokalen Erinnerungskultur des Bürgertums, die sich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945 lange Zeit wirksam entzog.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Andreas Schulz, Rezension von/compte rendu de: Gunnar B. Zimmermann, Bürgerliche Geschichtswelten im Nationalsozialismus. Der Verein für Hamburgische Geschichte zwischen Beharrung und Selbstmobilisierung, Göttingen (Wallstein) 2019, 704 S. (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 67), ISBN 978-3-8353-3391-8, EUR 39,90., in: Francia-Recensio 2020/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71660