Das napoleonische Reich war eine kurze, folgenlose Episode, gekennzeichnet durch den spektakulären Aufstieg eines Militärs und eines Staates zu großer Macht und Herrlichkeit wie deren raschem Verschwinden. Das ist der Plot des »roman national«, der seit dem Tod Napoleons 1821 immer wieder neu erzählt und vom französischen Publikum begeistert goutiert wird.
Die mit Abstand umfangreichste Darstellung der napoleonischen Epopöe legte Adolphe Thiers vor, dessen »Histoire du Consulat et de l’Empire«, in 20 Bänden von jeweils wenigstens 500 Druckseiten in den Jahren 1845 bis 1862 erschien. Das Werk setzte für das Genre der historischen Erzählung in Frankreich Maßstäbe: Trotz seiner wahrhaft epischen Anlage besticht es mit Klarheit in der Darstellung und einer einleuchtenden Gliederung des Stoffs. Thiers Darstellung war vor allem aber auch beispielgebend darin, dass sie eloquent alle ungelösten Probleme oder Widersprüche umschiffte. Damit gab Thiers zu erkennen, dass er sich im Urteil über den Protagonisten wie den Zielen seines Handelns an den Parolen der Propaganda Napoleons orientierte. Andererseits verschwieg er aber nicht, dass es dessen auf unstillbarem Eroberungsdrang basierende Politik war, die seinen wie Frankreichs Untergang heraufbeschwor. Auf das Scheitern dieser Hybris folgte die Katharsis, die Napoleon mit der »Hundert-Tage-Herrschaft« erlebte, die Thiers erneut in kritikloser Anlehnung an dessen Propaganda darstellte: Die Niederlage und die Verbannung nach Elba hatten Napoleon angeblich geläutert und seine vermeintlich wahre Natur als Wohltäter der Franzosen und der gesamten Menschheit wieder zur Geltung gebracht. Das entwarf eine Perspektive, die Napoleons erneutes Scheitern am Widerstand Europas in Waterloo als défaite glorieuse in den Rang einer großen menschlichen Tragödie erhob.
Die nur zu berechtigte Kritik, die Thiers an der Politik Napoleons übte, war für das Geschichtsverständnis der Dritten Republik, dem George Clemenceau 1891 das Dogma dekretierte, die Revolution sei ein Block, den man nur im Ganzen akzeptieren oder ablehnen könne, ein Schönheitsfehler. Diesen Makel begriff Albert Sorel als Herausforderung, die er mit seinem auf acht Bände angelegten Standardwerk »L’Europe et la Révolution française«, die zwischen 1885 und 1904 erschienen, virtuos beseitigte. Das gelang umso besser, als Sorel die Außenpolitik der Revolution wie die von Consulat und Empire im Sinne Clemenceaus als »Block« darstellte.
Damit ließ sich begründen, dass die Revolution von 1789 nicht in Blut, Schrecken und Korruption versumpft war, denn ihr ursprünglicher Auftrag wurde dank Napoleon verwirklicht. Um die Identität stiftende Stringenz dieser Deutung zu wahren, galt es jedoch dafür Sorge zu tragen, dass nicht Napoleon für sein eklatantes Scheitern an dieser Mission verantwortlich gemacht werden konnte. Also mussten Gründe benannt werden, die sich seiner Einflussnahme entzogen.
Diese Entlastung des Protagonisten besorgt Sorels zentrale These, nach der die Revolution lediglich außenpolitische Tendenzen, die für das Frankreich des Ancien Régime kennzeichnend waren, beschleunigte und verstärkte. Exemplarisch für diese Deutung ist das Mantra von den »natürlichen Grenzen« Frankreichs, das von der Revolution zum Glaubens- und Verfassungsartikel des neuen Regimes gemacht wurde. Sobald Napoleon im November 1799 durch den Staatsstreich des 18. Brumaire VIII die Regierung der Republik übernahm, hatte er angeblich keine andere Wahl, als diesen durch die vorausgegangenen Revolutionskriege geschaffenen fait accompli der Eroberung Belgiens und der Rheingrenze zu akzeptieren und zu verteidigen. Dieser Zwang hat nach Sorel das ganze Drama seiner weiteren Karriere in Gang gebracht, das in der Katastrophe von 1814–1815 endete.
Die vermeintliche Fatalität, mit der sich Napoleon konfrontiert sah, beschrieb Sorel gegen Ende des vierten Bands seines Werks mit den Worten: »La nature des choses « wollte es, dass »la Gaule césarienne« sich nur in einem Europa behaupten konnte, das den Gegebenheiten der Zeit der Caesaren entsprach [i. e. in römischer Zeit erstreckte sich Gallien bis an die »natürlichen Grenzen«]. Der einzige mit dieser römischen Konzeption von Gallien kompatible Frieden war das Römische Imperium, d. h. die Unterwerfung Englands und die Suprematie Frankreichs in Europa1. Die Annexion Belgiens und des Rheinlands durch den Konvent war demnach durch die französische Geschichte ebenso determiniert wie die durch Despotismus, andauernde Kriege und weitere Annexionen gekennzeichnete Entwicklung, die das napoleonische Kaiserreich einschlug und die schließlich in seinen Untergang einmündete.
Dessen ungeachtet nahm Napoleon stets für sich in Anspruch, und Sorel hütet sich, ihm zu widersprechen, nichts anderes als den Frieden gewollt zu haben. Unabdingbare Voraussetzung dafür war jedoch in der napoleonischen Logik der Besitz der »natürlichen Grenzen«, die ihrerseits durch ein von Frankreich dominiertes Glacis geschützt werden mussten, das auf dem Höhepunkt der napoleonischen Machtentfaltung fast ganz Kontinentaleuropa umfasste ... Das aber erwies sich als imperialer overstretch, der keinen Bestand hatte.
Dessen ungeachtet spinnt nicht nur die populäre französische Napoleon-Biografik bis heute ein Garn, das dieses Fatum zwar nicht rundheraus leugnet, aber dennoch bestrebt ist, ihrem Protagonisten die Verantwortung für den eigenen Untergang wie den Absturz Frankreichs ab- und stattdessen dem »perfiden Albion« und den mit ihm verbündeten europäischen Mächten zuzusprechen. Das geschieht mit einer mäandernden Argumentation, die eindeutige Aussagen und Zuweisungen mit großer Umsicht vermeidet. Exemplarisch dafür ist die einschlägige Reflektion, die André Castelot im zweiten Band seiner monumentalen Napoleon-Biografie als Nachbetrachtung zu der mit der Schlacht von Austerlitz vom Dezember 1805 geschaffenen Situation inseriert hat und die es in extenso zu zitieren gilt:
»Gewiss, der Kaiser hatte keinerlei Verlangen, Krieg zu führen, und die These des napoleonischen Pazifismus (!) lässt sich kaum trefflicher erweisen, als zu Beginn der Vierten Koalition. Entsprachen bei »M. de Buonaparte«, wie ihn seine Gegner nannten, die Wünsche nicht seinen Befehlen? Vermochte er nicht, ohne zu den Waffen zu greifen (!), nach seinem Belieben die Grenzmarkierungen zu verändern? Ganz Europa starrte schreckensvoll auf dieses von Heißhunger geplagte Frankreich, das sich unter unterschiedlichen Bezeichnungen mehr oder minder ununterbrochen von den Hansestädten bis nach Neapel, und von Brest bis an die Ufer der Elbe erstreckte, das im Begriff war, die Oder zu erreichen und eines Tages – einige sehen dies schon für bald voraus – bis zu den Ufern von Weichsel und Memel vorzustoßen .
Wenden wir uns noch Italien zu, das ursprünglich in österreichische Besitztümer, ja selbst in einige mit spanischer Beimischung zerstückelt war, und die europäischen Staaten konnten auch nicht gleichgültig bleiben, wenn sie sahen, dass die deutschen Länder aufhörten preußisch oder österreichisch (!) zu sein. Sie kennen keine andere Lösung als den Krieg, um sich das wieder zu verschaffen, was ihnen mit Waffengewalt von der französischen Revolution oder deren Nachfolger entrissen wurde. Schließlich, was könnte Napoleon noch gewinnen, wenn er neuerliche Schlachten schlägt? Doch nur das, sich neue Gegner anzuschaffen, vor denen er sich als Gefangener seiner gegenwärtigen und künftigen Eroberungen wohl hüten muss!
Wenn die Eroberungen schon nicht mehr ihm persönlich zustatten kommen, dann sollten sie wenigstens für den Clan oder seine Verbündeten und Genossen von Nutzen sein, um diese für ihre ihm gewährte Unterstützung zu entschädigen. Sollte er aber gar seine Friedensliebe derart übertreiben, eroberte Provinzen wieder den Besiegten zu überlassen? Sollte er aus freien Stücken den Einfluss und die territoriale Ausdehnung Frankreichs begrenzen? Sollte er womöglich den Engländern ein Stück des europäischen Kuchens zusprechen? Oder diesen wenigstens gestatten, mit dem Kontinent unbehelligt Handel zu treiben? Das wäre möglicherweise ein Gebot der Klugheit gewesen, aber das einer gefährlichen Klugheit! Der Kaiser hätte sie sich nur zu eigen machen können, wenn er, wie wir, um den Ausgang des außergewöhnlichen Abenteuers gewusst hätte.
Die ständigen, aus freien Stücken (!) oder unfreiwillig erfolgenden Gebietserweiterungen des kaiserlichen Frankreich, würden dessen Gegner immer dazu nötigen, ihm den Krieg zu erklären. Ebenso wie seine ununterbrochen erfochtenen Siege den Kaiser dazu zwingen würden, künftige Kriegsanlässe zu vermehren, die eines Tages die Ursache seines Unterganges sein werden.2«
Diese Argumentation, die ganz in der Tradition der von Thiers und Sorel entwickelten Sicht auf Napoleon steht, ist nicht nur waghalsig, sondern verweigert sich auch grundsätzlich allen Einsichten, die seither von einer quellenkritisch arbeitenden Historiografie bereit gestellt wurden. Das Einzige, das dafür spricht, jene alte napoleonische Mär erneut routiniert aufzukochen, wie dies Castelot tut, ist der nicht bestreitbare Erfolg, der diesem »Napoleon« nach Auskunft des Verlags über eine Million verkaufte Exemplare bescherte! Diese Angabe ist umso weniger zu bezweifeln, als Castelot eine anekdotenreiche, süffige »biographie fleuve« vorgelegt hat, die das Erfolgsrezept solcher populär-historischen Scharteken beherzigt, ihre Leserinnen und Leser mit großen, detailfreudigen und liebevoll ausgemalten Schlachtengemälden zu unterhalten.
Angesichts des seit eh und je großen Publikumserfolgs, den diese großflächige historische Freskomalerei hat, die immer wieder kritiklos schildert, wie Napoleon die französische Gesellschaft militarisierte, indem er Armee und militärischen Ruhm zum Mittelpunkt des Lebens in Frankreich machte, kann man sich nur wundern, dass das Land gegenwärtig nicht in einem chauvinistischen Taumel schwelgt. Die Popularität dieses altbackenen Blicks auf die napoleonische Episode ist aber keineswegs völlig folgenlos, sondern findet sich gewissermaßen als Reflex sublimiert im Verlangen nach einer zur Staatsraison verklärten grandeur, die nicht nach materiellen oder moralischen Kosten fragt und die ein von de Gaulle glanzvoll renoviertes Gebot der französischen Politik darstellt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Johannes Willms, Rezension von/compte rendu de: André Castelot, Napoléon. Nouvelle édition, Paris (Perrin) 2019, 754 p., 16 ill. en coul. (biographie), ISBN 978-2-262-08083-9, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71736