Bereits 1908 fasste Georg Simmel die Ausrichtung einer sozialwissenschaftlichen Grenzforschung programmatisch in folgende Formel: Grenze sei »als soziologische Tatsache, die sich räumlich formt«, und nicht als »räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen« zu untersuchen. In Frankreich dekonstruierten zwar bereits Historiker wie Lucien Febvre und Gaston Zeller die Vorstellung von den »frontières naturelles«, die das »hexagone« als naturräumliche Einheit erscheinen ließ. Dabei blieb die französische Forschung allerdings noch lange festgelegt auf die Rolle der frühneuzeitlichen Staaten als die Produzenten linearer Grenzen. Wenn Daniel Nordman 1998 beschrieb, wie die Frontières de France von staatlichen Institutionen im militärischen Kräftemessen ebenso wie in diplomatischen Verhandlungen gezogen wurden, erschienen die Menschen an der Grenze immer noch vor allem als Objekte institutioneller Integration und kultureller Assimilation. Dabei hatte Peter Sahlins bereits 1989 aufgezeigt, wie die Grenzbevölkerungen vor Ort im 17. und 18. Jahrhundert mit ihren eigenen Sinngebungen und Praktiken Vorstellungen und Wirklichkeit von Grenzen, Staat und Nation mitprägten.

Der hier zu besprechende Sammelband greift solche Anregungen auf. Er versammelt Studien von Historikern, Geographen, Soziologen und Politikwissenschaftlern zu den Grenzziehungen im Juraraum zwischen dem Spätmittelalter und der Gegenwart.

Die fünf Beiträge des ersten Teils beleuchten die Konflikthaftigkeit von Grenzen. Léonard Dauphant untersucht die Konflikte um die sogenannten »terres de surséance« zwischen Freigrafschaft und Frankreich im 15. Jahrhundert. Jérôme Loiseau bietet sodann einen Überblick über die Beziehungen zwischen Herzogtum und Grafschaft Burgund vom 16. bis 18. Jahrhundert. Seit der Annexion der Freigrafschaft durch Ludwig XIV. begannen sich die Konflikte von den Grenzen zwischen den beiden Burgund an die Außengrenzen des Königreichs zu verlagern. Als Wendepunkt in einem Prozess der Nationalisierung der Zugehörigkeiten erscheint im Aufsatz von Maxime Kaci die Revolutionszeit. Der neuen Binnenaufteilung von Herzogtum Burgund und Freigrafschaft in mehrere Départements stand die schärfere Abgrenzung entlang der staatlichen Außengrenzen gegenüber, die ihre Bedeutung unter anderem durch die Nutzung der Grenzlage durch die Bevölkerungen erhielten. Auf beiden Seiten der Grenzen standen sich keine homogenen Gemeinschaften gegenüber. Vielmehr hatten die Akteure je nach sozialer Stellung nach unterschiedlichen Logiken an den Konflikten teil. Dominique Jacques-Jouvenot untersucht, wie eine ursprünglich aus dem eidgenössischen Raum stammende Kuhrasse seit dem 19. Jahrhundert in der Freigrafschaft als »Montbéliarde« zum Symbol der lokalen Viehzucht wurde. In einem etwas gar knappen Beitrag spricht Laurent Tissot schließlich die Frage an, wie im 20. Jahrhundert in den schweizerischen Grenzräumen in politischen Auseinandersetzungen Fremdstereotype mobilisiert wurden.

Im zweiten Teil sollen die Chancen untersucht werden, die sich den Bevölkerungen dank der territorialen Ausdifferenzierung entlang der Grenzen eröffneten. Bertrand Forclaz zeigt in seinem Beitrag, wie aus den unterschiedlichen konfessionellen Festlegungen im 16. und 17. Jahrhundert eine Vielzahl neuer Grenzziehungen resultierte. Er unterstreicht dabei vor allem die Rolle der Burgrechte (combourgeoisies). Diese verbanden die zur Reformation übergetretenen Territorien des Fürstbistums Basel mit Bern und lösten sie de facto teilweise aus dem fürstbischöflichen Untertanenverband heraus. Doch auch die Situation im protestantischen Neuenburg war durch hybride Zugehörigkeiten geprägt – mit einem katholischen Landesherrn aus dem französischen Hochadel und Burgrechten mit mehreren eidgenössischen Orten, allen voran dem reformierten Bern. Robert Chapuis thematisiert Veränderungen der innerfranzösischen Abgrenzungen zwischen Burgund und Freigrafschaft seit der Revolution. Fabien Knittel untersucht den Austausch agronomischen Wissens zwischen Bern (insbesondere dem Kreis um den Berner Patrizier Fellenberg) und den beiden Burgund. Der Aufsatz von Julien Chevillard ist den jüngsten Veränderungen der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration infolge der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union gewidmet.

Die Beiträge des dritten Teils wenden sich den Praktiken zu, mit denen die grenzüberschreitende Zirkulation von Menschen und Waren organisiert, eingeschränkt oder gefördert wurde und wird. Michelle Bubenicek zeigt, wie Philipp II. der Kühne von Burgund erfolglos versuchte, mit der Neuregelung des Salzhandels die Bindungen zwischen dem französischen Herzogtum und der zum Reich gehörigen Freigrafschaft zu intensivieren. Stéphane Kronenberger untersucht die beidseitige staatliche Kontrolle der Grenze durch Militär, Zoll und Polizei zwischen 1870–1871 und dem ersten Weltkrieg. Er unterstreicht die begrenzten Erfolge bei der Bekämpfung von Schmuggel, aber auch die Bedeutung grenzüberschreitender Netzwerke für die damals auf beiden Seiten der Grenzen wichtigsten Wirtschaftszweige – die auf die Käseherstellung ausgerichtete Viehzucht sowie die Uhrenproduktion. Dominique Andolfatto behandelt die Schwierigkeiten, schließlich das Scheitern grenzüberschreitender gewerkschaftlicher Kooperation seit den 1990er Jahren, Annie Bleton-Ruget die innerfranzösische Planungs- und Förderpolitik, Alexandre Moine die interregionale Zusammenarbeit über die internationale Grenze hinweg.

Die lange Zeitspanne und die Verschiedenheit der Thematiken und disziplinären Zugänge sind zugleich Stärke und Schwäche des zu besprechenden Bandes. Wenn die Chancen untersucht werden sollen, die sich den Bevölkerungen dank der territorialen Ausdifferenzierung entlang der Grenzen eröffneten, hätte zum Beispiel ein stärkerer Fokus auf die Schmuggelaktivitäten entlang der Binnengrenzen des Ancien Régime und den staatlichen Außengrenzen erwartet werden können – mit solchen Tätigkeiten erschlossen sich die Grenzbevölkerungen zeitweise substantielle Gewinnmöglichkeiten, während sie zugleich die Legitimität obrigkeitlicher Grenzziehungen in Frage stellten. Vergleichend ist der Band nicht auf systematische Weise, sondern mit der schlaglichtartigen Betrachtung von Themen, die bislang für den Juraraum in unterschiedlichem Maße erforscht wurden. Insgesamt belegt er aber, dass die eingangs zitierte alte Forderung von Georg Simmel inzwischen in der Geschichtswissenschaft und verschiedenen Nachbardisziplinen aufgenommen worden ist.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian Windler, Rezension von/compte rendu de: Benjamin Castets-Fontaine, Maxime Kaci, Jérôme Loiseau, Alexandre Moine, Deux frontières aux destins croisés? Étude interdisciplinaire et comparative des délimitations territoriales entre la France et la Suisse, entre la Bourgogne et la Franche-Comté (XIVe siècle–XXIe siècle), Besançon (Presses universitaires de Franche-Comté) 2019, 267 p., nombr. ill. en coul. Et n/b., 4 annexes (Les cahiers de la MSHE Ledoux. Série Dyamiques territoriales, 36), ISBN 978-2-84867-644-9, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71738