Das Interesse anglo-amerikanischer Historikerinnen und Historiker an der Geschichte anderer Länder und Kulturen ist bemerkenswert weit gefächert und bisweilen erstaunlich detailverliebt, oft auch – zu Recht – sehr einflussreich. Nicht alles ist freilich Gold, was in englischer Sprache zu glänzen vorgibt. Das gilt, leider, auch für den hier vorzustellenden Band.

Randolph C. Head, Professor an der University of California Riverside, ist bisher als Spezialist für frühneuzeitliche Schweizer Geschichte hervorgetreten. In seinem neuesten Buch wendet er sich auf über 300 von Cambridge University Press bereitwillig verlegten Seiten dem Archiv-, Urkunden-, Geschäftsbuch- und Aktenwesen Alteuropas zwischen 1400 und 1700 zu. Dem Titel wäre daher wohl »in Late Medieval and Early Modern Europe« besser angestanden.

Akademisch-universitäre Historiker sind zwar immer seltener in den Besuchersälen unserer materialstrotzenden Archive anzutreffen, sie wenden sich aber, in kulturwissenschaftlicher Perspektive, immer öfter »dem Archiv« zu, nicht als Ort und Bergwerk quellennaher Forschung, sondern als Studienobjekt. Eine »Kulturgeschichte des Archivs«, die »das Archiv« in erster Linie als Institution der Wissensorganisation und der Wissensspeicherung, auch als Machtinstrument begreift, erfreut sich in jüngerer Zeit zunehmender Beliebtheit.

Ein mitunter fast »ethnologischer« Zugang, der »das Archiv« als einigermaßen fremdes Kuriosum »von außen« betrachtet, kann selbstverständlich interessante Einsichten eröffnen, manches ist aber durchaus entbehrlich, einiges für den Berufsarchivar nachgerade ärgerlich. Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden. Vieles, was die selbsternannte »new archival history« als Novum verkauft, ist archivgeschichtlich (oder diplomatisch-aktenkundlich) gut erforscht und längst angenehm lesbar dargestellt, ganz ohne die mühsamen Sprachver(w)irrungen postmoderner Kulturwissenschaft. Literaturkenntnis schützt, selbst auf dem eher ariden Feld der Archivgeschichte, vor Neuentdeckungen. Einige Klassiker werden im vorliegenden Fall zwar (eher pro forma) zitiert, Adolf Brennecke etwa, er spielt aber in weiterer Folge ebenso wenig eine das erratische Interesse des Autors orientierende oder steuernde Rolle wie Johannes Papritz, Heinrich Otto Meisner und andere. Das aktuell Modische dominiert.

Was eine Weitervermittlung der sehr anerkennenswerten Erkenntnisse deutscher bzw. europäischer Archivgeschichte und -theorie an anglo-amerikanische Leserinnen und Leser hätte sein können, stellt sich rasch als eine mit hochtrabendem Rahmentext garnierte Sammlung bereits veröffentlichter »Fallstudien« dar (scholastisch-hochmittelalterliche Beweisführung, portugiesische Kanzleiregister, Innsbrucker Geschäftsbuchführung des frühen 16. Jahrhunderts, der trésor des chartes der französischen Könige, habsburgische Archivinventare, Würzburger Registraturen, savoyische Ordnungssysteme, Schweizer Stadtarchive, das spanische Kronarchiv von Simancas, brandenburgische Registraturfinessen, Stadtbücher, Mabillons De re diplomatica, das deutsche Ius Archivi usw.), die letztlich unverbunden nebeneinander stehen.

Alles wird angerissen, nichts in für den Leser befriedigender Weise abgearbeitet. Die Tarnkappe scheinbarer Komparatistik entpuppt sich wieder einmal als Vehikel der Oberflächlichkeit. Das Konzept einer europäischen »Archivkultur« (»European archivality«), das der Autor in die Diskussion einbringen will, gewinnt auch nach vielen hundert Seiten keine Kontur. So sieht sich der Rezensent beim besten Willen nicht in der Lage, einen allfälligen roten Faden aufzugreifen oder gar das von einer Buchbesprechung üblicherweise Erwartete, eine informative Zusammenfassung handfesten Inhalts, zu liefern. Eine äußerliche Beschreibung von Archivinventaren, Geschäftsbüchern und Ablagetechniken, die professionelle Kodikologie oder Aktenkunde besser zu leisten vermögen, ist noch keine publizierenswerte »Analyse«.

Ermüdend schließlich auch die sich aus der Substanzarmut ergebende Redundanz der Einleitung und der disparaten Kapitel, die nach einem schreibguide-mäßigen Schema zwischen hoffnungsfroher Ankündigung des Folgenden und vollmundiger Zusammenfassung des (enttäuschenden) Vorangehenden zu einer doch recht dünnen Suppe gerinnen. Man legt das Buch ratlos und enttäuscht zur Seite.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Hochedlinger, Rezension von/compte rendu de: Randolph C. Head, Making Archives in Early Modern Europe. Proof, Information, and Political Record-Keeping, 1400–1700, Cambridge (Cambridge University Press) 2019, XVIII–348 p., 19 b/w ill., ISBN 978-1-108-47378-1, GBP 90,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71744