Erschienen in der Reihe »Le Temps de l’Histoire« zeigt dieser Band, dass auch jenseits von Paris und seinen bekannten Verlagshäusern bemerkenswerte historiographische Publikationen erscheinen, in diesem Fall veröffentlicht von Presses universitaires de Provence in Aix-en-Provence. Es handelt sich um einen Tagungsband der Forschungszentren CIELAM und TELEMME, dem Centre interdisciplinaire d’études des littératures und Temps, Espace, Langage, Europe méridionale an der Universität Aix-Marseille.

Der vorliegende Band verfolgt einen dezidiert diskursanalytischen Ansatz, das heißt, anders als klassischerweise in der Geschichtswissenschaft üblich wird nicht danach gefragt, was auf Basis individueller Zeugnisse über die Vergangenheit in Erfahrung zu bringen und als gesichertes Wissen zu verbuchen ist. Sondern es geht vielmehr darum, welche Veränderungen die großen politischen, religiösen und militärischen Bewegungen der Frühen Neuzeit bei den Zeitgenossen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung bewirken – und wie sich diese in den Quellen nachzeichnen lässt.

Der Band enthält neben der sehr guten Einführung in die Thematik von Nadine Kuperty-Tsur insgesamt zwölf Beiträge, die vier Sachgebieten zugeordnet sind: 1) »Das Individuum zwischen Geschichte und Politik«; 2) »Politische Konstellation und individueller Ausdruck«; 3) Satiren und Schmähschriften im 17. Jahrhundert und schließlich; 4) Von der Einzelperson zur historischen Persönlichkeit.

Hierbei werden entweder bestimmte Quellengattungen auf ihre Eignung und Ergiebigkeit für die Fragestellung geprüft (so bei den diplomatischen Depeschen, den Memoiren oder Ego-Dokumenten aus der Zeit der Religionskriege) oder die Untersuchung einzelner Zeugnisse mit ihren Ergebnissen vorgestellt.

Zahlreich sind die angeführten Beispiele für Verleugnung ursprünglicher Überzeugungen unter dem Druck der Ereignisse; Versuche, von der jeweiligen Gegenseite unbehelligt zu bleiben, führen zur Unterdrückung von Rache- oder Trauerimpulsen, wenn diese Gefahr für das eigene Leben bedeuten. Solche Beispiele in großer Zahl zusammengetragen und aus ihnen übertragbare Schlussfolgerungen für die Sozialisierung von Menschen in Zeiten des (Bürger-) Krieges gezogen zu haben, ist ein Verdienst des vorliegenden Bandes.

Hierbei werden Personen unterschiedlichster sozialer Herkunft betrachtet, ebenso wie der Band ein Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Zeitzeugen zu halten bemüht ist.

Auch erfährt das Bild, das der Historiker aus den Quellen über einzelne Persönlichkeiten gewinnen kann, erhebliche Veränderungen in dem Moment, da nicht die betroffene Person selbst, sondern andere über sie schreiben – so entstehen auf Einzelpersonen wie Coligny, Mazarin oder Heinrich III gemünzte Schmähschriften, die – diskursanalytisch gesprochen – sehr viel mehr über ihre Verfasser als Akteure in ihrer Zeit als über das Ziel ihrer Kritik auszusagen vermögen.

Regeln bzw. Regelmäßigkeiten und Klassifizierungen solcher Schriften herausgearbeitet zu haben, ist ein weiteres Verdienst des Bandes.

Hervorzuheben ist der Artikel von Jérémie Foa, der exemplarisch das Schicksal mehrerer Familien während der Religionskriege untersucht, also die Politisierung dieser Familien, ihre inneren Spaltungen, das Zurücktreten traditioneller moralischer Werte und die Notwendigkeit, jenseits davon situative Überlebensstrategien zu entwickeln. Sein Ziel ist, aus der Fülle der Beispiele sich wiederholende Verhaltensmuster in Zeiten des Bürgerkriegs zu isolieren, die auch den Vergleich mit anderen Konflikten im 20. Jahrhundert aushalten.

In seinem Artikel »Deux historiens dans leur histoire« vergleicht Jean-Raymond Fanlo zwei sehr unterschiedliche historiografische Portraits Heinrichs IV, zum einen von Jacques-Auguste de Thou, zum anderen von Agrippa d’Aubigné, wobei die unterschiedliche Zeichnung und Anerkennung seines Herrschaftsanspruchs zwei zutiefst verschiedene Autorenschicksale während der Religionskriege erkennen lässt.

Matthieu Gellard weist in seinem Artikel zu Leben und Schicksal königlicher Botschafter im 16. und 17. Jahrhundert nach, dass deren Berichte über das Land ihrer Entsendung keineswegs als sachlich-neutrale Zeitzeugenberichte zu lesen sind, sondern vor allem viel über das persönliche und politische Verhältnis ihrer Verfasser zum heimischen, französischen Hof verraten. Einerseits ermöglicht die Entfernung von Frankreich, politische Meinungen zu formulieren, die im Lande selber wahrscheinlich nicht zu Papier gebracht worden wären. Andererseits spielt die Sorge um die eigene Zukunft bei Hofe – die Angst, im Ausland in Vergessenheit zu geraten und das stete Bemühen, den eventuellen Vorwurf der Illoyalität zu entkräften, ebenso massiv in diese Texte hinein.

Bruno Morgant Tolaïni zieht als Korpus seiner Untersuchung die Memoiren zahlreicher Persönlichkeiten heran – Persönlichkeiten, die, aus dem höfisch-politischen Leben verabschiedet – ihr eigenes Handeln ex post rechtfertigen und sich bei der Bewertung der Politik aufgrund ihrer Lebenssituation erhebliche Freiheiten nehmen können. Schlussfolgerungen allgemeinerer Art zu dieser Quellengattung, die man sich gewünscht hätte, bleiben hier allerdings aus.

Der interessierte Leser findet schließlich am Ende des Bandes ein Autorenverzeichnis. Bedauerlich ist allerdings, dass dieser Band keine Zusammenfassungen der einzelnen Artikel enthält.

Auch wenn die Einteilung in vier verschiedene Themenbereiche im Einzelfall willkürlich erscheint und diese sehr unterschiedlichen Umfang haben, so kann man die Publikation insgesamt doch als sehr gelungen bezeichnen. Dies verdankt sie vor allen Dingen der Qualität der verschiedenen Artikel, die, jeder für sich, eine bereichernde Lektüre darstellen und originelle, ungeahnte Einsichten ermöglichen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

David Bitterling, Rezension von/compte rendu de: Nadine Kuperty-Tsur, Jean-Raymond Fanlo, Jérémie Foa (dir.), La construction de la personne dans le fait historique XVIe–XVIIIe siècles, Aix-en-Provence (Presses universitaires de Provence) 2019, 242 p. (Temps de l’histoire), ISBN 979-10-320-0221-6, EUR 23,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71749