Das schmale Bändchen über die kleine Vendée im Artois greift eine Problematik auf, die in den 1980er Jahren mit den Begriffen »Konter-« vs. »Antirevolution« (Claude Mazauric) umschrieben wurde und danach vor allem von Jean-Clément Martin anhand der westfranzösischen Ereignisse weiterverfolgt wurde, ohne allerdings tiefere Spuren in der allgemeinen Revolutionshistoriographie hinterlassen zu haben, die sich seitdem eher auf den Weg nach St. Domingue gemacht hat und die globalen Echokammern der Revolution auslotet. Es geht um das Verhältnis von Ausbrüchen populären Unmuts über einzelne Maßnahmen der Revolutionsregierung (wie in diesem Fall gegen die Einziehung zum Militär) und gegenrevolutionärer Strategie, die darauf zielt, das Rad der revolutionären Veränderungen wieder auf die Verhältnisse des Ancien Régime zurückzudrehen. Unterscheidet man diese beiden Strömungen analytisch, öffnet sich der Blick auf eventuelle Parallelen oder Allianzen.
Dem stand auf der anderen Seite die Furcht der neuen Eliten gegenüber, solche Resistenz gegen konsequentes Eintreten für die Sache der Revolution gefährde nicht nur kurzfristig den Erfolg einzelner Schritte in der sozialen Transformation oder militärischer Auseinandersetzung mit externen Feinden, sondern untergrabe auch ganz grundsätzlich die Legitimität der Revolution, die sich ja darauf berief, zugunsten der ehemals Unterdrückten und Entrechteten den Umsturz der Verhältnisse zu führen. Wenn diese sich aber durch unüberhörbaren Einspruch von unten von der Programmatik abwandten, die in ihrem Namen verfolgt wurde, war eine dramatische Bresche in die Glaubwürdigkeit des neuen Regimes geschlagen.
Wiewohl machttaktisch geradezu darauf angewiesen, zwischen grundsätzlicher Gegnerschaft und temporärer Unzufriedenheit zu unterscheiden, um das Bündnis mit Bauern und städtischen Sansculotten zu pflegen statt in Gefahr zu bringen, lassen sich immer wieder Momente ausmachen, in denen lokale Repräsentanten der Revolution in Panik gerieten und jede Form der Widerständigkeit einer allgegenwärtigen konterrevolutionären Gefahr zuschlugen. Übrigens nicht ohne eine lange Tradition zu begründen, denn das Muster begrenzt sich keineswegs auf die Revolution in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts, sondern lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen: keine Revolution ohne heftige Verfluchung einer oft verschwommen bleibenden konterrevolutionären Gefahr.
Im konkreten Fall erscheint der Vorgang selbst von fast grotesk geringem Ausmaß und ist auch in der Einleitung des Bandes schnell dargelegt. Am 25. August 1793, einem Sonntag, versammelten sich in dem kleinen Örtchen Pernes junge Leute aus den umgebenden Dörfern und verweigerten den Marsch nach Saint Pol, wo sie für die nächste Militärkampagne gemustert werden sollten. Sie schlugen sich nach heftiger Artikulation ihrer Gegnerschaft zum herrschenden Regime alsbald in die Büsche und Wälder. Eine länger andauernde Aufstandsbewegung kam allerdings nicht zustande, am nächsten Tag schien die Ordnung schon wieder einigermaßen hergestellt. Joseph Lebon, représentant en mission für die Region, sah jedoch eine kleine Vendée am Horizont aufleuchten und setzte das Revolutionstribunal in Aktion, das 19 der Aufmüpfigen, unter ihnen vor allem arme Schlucker, aber auch zwei bis drei Großbauern, hinrichten ließ.
Hier schließt nun Gérard Lesage an und liefert eine ganze Serie von methodischen Zugängen, die einzelne Kapitel inspirieren: zunächst zeigt er das Artois als eine der bevölkerungsreichsten Regionen des alten Frankreich, die bereits vom Handelskapitalismus und der damit zusammenhängenden Protoindustrie massiv durchdrungen war und damit das Gegenteil der oft als rückständig beschriebenen westfranzösischen Vendée darstellt.
Das nächste Kapitel ist der Sozialstruktur mit einer schon sehr weitgehend marktorientierten Landwirtschaft im Zentrum gewidmet, das darauffolgende Kapitel dem Verlauf der Revolution. Hier zeigt sich, dass für viele Landarme gar nichts besser wurde, weder durch die Veräußerung der Nationalgüter noch durch die Vertreibung der Feudalherren und der von ihnen ausgehenden, nun abgeschafften Lasten. Stattdessen drangen die Reichen aus den Städten in die Landwirtschaft vor, erwarben Boden und trieben die Preise nach oben. Gleichzeitig schwächten sich die sozialen Sicherungssysteme des Ancien Régime ab, die auf der Gemeindeebene Schutz vor dem völligen Verlust der Existenzgrundlage boten und nun, etwa in Form der kirchlichen Armenfürsorge, verschwanden oder zumindest ausgehöhlt wurden.
Gleichzeitig erfüllte sich die Hoffnung auf Entlastung gerade für jene nicht, denen es egal war, ob sie Feudalabgaben, Kirchenzehnt oder Steuern an den König zu entrichten hatten, sondern davon träumten, von solchen Forderungen künftig ganz verschont zu bleiben. Stattdessen erwies sich das neue Regime viel effizienter bei der Eintreibung der Steuern und entwickelte angesichts der steigenden Militärausgaben rasch einen Hunger nach höheren Abgaben. Dazu kam die Reorganisation des Rechtswesen und der Kirchenangelegenheiten, über die der Verfasser ausführlich berichten kann, weil darüber reichlich Quellen vorhanden sind. Die Musterung für den ungeliebten Militärdienst – und ausgerechnet in der Erntezeit – brachte das oft zitierte Fass zum Überlaufen und liefert dem detailverliebten Bericht aus der Feder des Regionalexperten die nötige Tiefenschärfe.
Protagonisten werden mit ihrem Sozialprofil vorgestellt, Laufzeiten von Gerüchten nachgemessen, die Rolle von Religion und wirtschaftlicher Unzufriedenheit aus den Akten des Revolutionstribunals destilliert. Wichtig scheint vor allem die heftige Reaktion der Vertreter des revolutionären Lagers, die von Anfang an proklamierten, es nicht zu einer zweiten Vendée kommen lassen zu wollen. Da half auch nicht, dass der Anlass alsbald in sich zusammen gebrochen war – die Gefahr war einmal benannt und musste fortan auf das heftigste gebannt werden. Die rasch zusammenkommenden revolutionstreuen Truppen – nicht weniger als 6000 – machten einer orientierungs- und führerlosen Rebellion sehr schnell ein Ende, bereits nach einer Nacht im Wald von Pernes ergaben sich die verbliebenen Aufrührer ohne weitere Gewalt.
Die Anekdote ist ganz zweifellos keine der großen Männer (oder Frauen), die den Lauf der Geschichte änderten, aber sie beleuchtet die Dynamik, die in Zeiten revolutionärer Erregung bereits durch kleinste Anlässe freigesetzt werden kann. Wir verdanken dem Autor eine präzise Mikrogeschichte, die auch von jenen zur Kenntnis genommen werden sollte, die sich hauptsächlich für die Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte interessieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Matthias Middell, Rezension von/compte rendu de: Gérard Lesage, Une petite Vendée en Artois. Le peuple des campagnes et la révolution de 1789. Préface de Pierre-Yves Beaurepaire, Le Coudray-Macouard; Anger (Les Acteurs du savoir; Académie des sciences, belles-lettres et arts d’Angers) 2019, 188 p., ISBN 979-10-97108-51-9, EUR 17,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71750