In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von Publikationen zur Geschichte der Habsburgermonarchie erschienen. Der gemeinsame Tenor dieser Bemühungen war, dass sie das tradierte Vorurteil gegenüber diesem Staat als unzeitgemäßen »Völkerkerker« revidieren wollten und auf diese Weise auch die bis heute gemeinhin vertretene Erklärung von dessen Untergang im Jahr 1918 als längst überfälligem, ja notwendigem Ende in Frage stellten.
A. Wess Mitchell, vormaliger Präsident des Center for European Policy Analysis in Washington, DC und späterer Assistent Secretary of State for European and Asian Affairs unter Präsident Donald Trump (ein Amt, von dem er 2019 zurückgetreten ist), geht noch einen Schritt weiter. Ihm geht es darum, das jahrhundertelange erfolgreiche Bestehen der Habsburgermonarchie trotz bzw. auf Grund ihrer schwierigen geopolitischen Lage im Zentrum Europas, als eine Folge ihrer »Grand Strategy« in außenpolitischen sowie diplomatischen Belangen nachzuweisen. Die Aktualität dieser Thematik sieht Wess in der möglichen Vorbildwirkung begründet, welche die Geschichte der »Grand Power« Österreich für das heutige Amerika haben könnte, das seine bisherige »global leadership« und die »genial effects«, welche die Vereinigten Staaten seit 70 Jahren der Menschheit gebracht hätten, nur dann für die nächsten Generationen bewahren könne, wenn es – vergleichbar der historischen Habsburgermonarchie – seine geopolitische und strategische Position zwischen den eurasischen Kontinenten »skillful« handhaben würde (S. X, XI).
Das heuristische Konzept von »Grand Strategy«, dessen Entstehungsgeschichte der Autor, ausgehend von den bereits im 19. Jahrhundert einsetzenden Debatten um die Verteidigungsstrategien des britischen Imperiums, in einer Fußnote ausführlich erläutert (S. 334–335), verdankt seinen historiografischen Erfolg insbesondere in der angelsächsischen Forschung einer Reihe von Autoren wie u. a. Paul Kennedy, John Lewis Gaddis, Colin S. Gray. Es legt den Fokus auf eine (angenommene) Gesamtstrategie eines Staates in Hinblick auf seine außen- und sicherheitspolitischen Ziele – und dies auf der Grundlage seiner realistisch eingeschätzten politischen, ökonomischen und militärischen Möglichkeiten.
Angesichts ihrer nachteiligen geopolitische Lage, so Mitchell, als »interstitial power« (passim), die ringsum von potentiellen Feinden umgeben war, und angesichts ihrer beschränkten, vor allem militärischen Ressourcen, stellt sich im Falle der Habsburgermonarchie die Frage, wie sie sich dennoch so lange als Großmacht behaupten konnte. Das Konzept von »Grand Strategy« sei hier ein möglicher Schlüssel zum besseren Verständnis: Dass es in der bisherigen Historiografie nicht schon längst auf Österreich angewendet wurde, liege seiner Ansicht nach daran, dass man traditionellerweise von der »necessity« Habsburgs als »ward of the international system« (S. 8) ausgegangen sei und daher die Frage nach einer den politischen Entscheidungsträgern gewissermaßen inhärenten »Grand Strategy« gar nicht gestellt habe.
Genau diese glaubt Mitchell nun aber diagnostizieren zu können. Es sei keineswegs nur die geschickte Heiratspolitik gewesen, die den Zusammenhalt des »Habsburg Puzzle« (S. 1–17) ermöglicht habe, sondern das zeitübergreifende Ziel, als Großmacht zu überleben, habe den habsburgischen politischen, diplomatischen und militärischen Führungseliten eine Art DNA (»genetic code«,S. 9) an Grand Strategy eingeschrieben, die von Generation zu Generation weitergegeben worden sei und die darin bestand, Zeit zu gewinnen, geschickt mit allen potentiellen Gegnern zu verhandeln, sich an den Grenzen möglichst mit kooperativen »Pufferstaaten« zu umgeben und vor allem sich möglichst defensiv gegenüber Angriffen von außen zu verhalten. Diese Einsicht in die eigenen begrenzten Möglichkeiten (»recognition of limits«, S. 303) sei erst in der Ära von Franz Joseph zu Ende gegangen und erst dies hatte zur Folge, dass der Staat den technischen und sozialen Wandel des Jahrhunderts nicht mehr bewältigen konnte.
Mitchell nimmt sich für seine Analyse freilich nur jenen Zeitraum vor, der sich in etwa mit dem deckt, der auch in den älteren Lehr- und Handbüchern zur österreichischen Geschichte gern als »Österreichs Aufstieg zur Großmacht« (vgl. Erich Zöllner, 1974, S. 246ff.) bezeichnet wurde. Er setzt mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1700) ein und endet mit Königgrätz (1866). Der Aufbau gliedert sich – gemäß der einleitend klar erläuterten Fragestellung nach den jeweiligen geopolitischen Voraussetzungen, den daraus sich ergebenden Handlungsspielräumen und den tatsächlichen politischen und militärischen Entscheidungen – in drei Hauptteile: In einer ersten Sektion (Kap. 2–4) wird ein Überblick über die geopolitischen Ausgangsbedingungen, die Besonderheiten der Monarchie auf Grund ihrer politischen und ethnischen Vielfalt (»The Habsburg Monarchy was not, and could never become, a normal Great Power«, S. 79), sowie über die daraus sich ergebenden strategischen politischen und militärischen Handlungsspielräume gegeben. Mitchell’s Blick auf die Monarchie geht dabei von großen naturgeografischen Raumkonzeptionen aus, in denen Meere, Flüsse und Gebirge eine entscheidende Rolle spielen. Zwischen Baltischem, Schwarzem und Adriatischen Meer bzw., etwas kleinräumiger, vom Rhein bis zum Schwarzen Meer, von der Weichsel bis zur Adria sieht er diese zentraleuropäische Großmacht an allen vier Himmelsrichtungen von potentiellen Feinden umgeben, vom Osmanischen Reich im Südosten, von Russland im Osten, vom stets mächtiger werdenden Preußen im Norden und von Frankreich im Westen. Die zentrale Achse von Habsburgs politischer Macht bildete dabei die Donau – in der Mitchell die Basis schlechthin »for a common middle European civilisation centered on Vienna« (S. 27) verortet.
In ähnlich großen Strichen zeichnet der Autor auch die Entwicklungen in der Zeit: In einem knappen Absatz wird der Aufstieg des Hauses Habsburg von vormaligen Markgrafen Mitte des 13. Jahrhunderts »by marriage, war and diplomacy« zur europäischen Großmacht in der Neuzeit abgehandelt, dessen Einfluss als »continental catholic empire«, insbesondere nachdem auch Burgund und Spanien in seinen Besitz gekommen waren, vom Atlantik bis zur mittleren Donau reichte (S. 54). Dass Rudolf I. nicht unmittelbar auf Friedrich von Hohenstaufen folgte, und dieser auch nicht 1254 starb, Kleinigkeiten solcher Art mögen angesichts von großen Würfen wie dem hier dargebotenen, als historiografische Beckmesserei erscheinen. Störend sind sie aber allemal, ebenso wie die durchgehende Bezeichnung »Erblände« (S. 55, passim) ein Indiz dafür ist, dass der Autor die deutschsprachige Literatur – mit Ausnahme der ins Englische übersetzten Arbeiten von Michael Hochedlinger – nicht mit ausreichender Sorgfalt zur Kenntnis genommen hat. Wenn von der ethnischen Komplexität die Rede ist, hätte man sich eine etwas genauere Unterscheidung der einzelnen Perioden gewünscht.
Doch eingedenk ihrer administrativen und militärischen Defizite, die ein Charakteristikum der Monarchie während des ganzen Zeitraums geblieben ist, entwickelten die österreichischen Staatsmänner, Militärs und Diplomaten (wer im Einzelnen gemeint ist, bleibt der Autor oft schuldig, auch wenn Kaunitz und Metternich dominieren) eben jene Grand Strategy, die ihr ein erfolgreiches Überleben ermöglichte. Technologisch sich am stärkeren Westen orientierend, dabei jedoch den Konflikt mit Stärkeren möglichst meidend, habe die Monarchie vor allem auf den Schutz ihrer Grenzen geachtet und sich daher an allen Fronten mit Festungen umgeben. (Die neueren Arbeiten zum österreichischen Festungsbau, u.a. von Harald Heppner hat Mitchell dabei ebenso wenig rezipiert.)
Historisch konkreter und in sich chronologisch gegliedert wendet sich der zweite Teil (Kap. 5–7) anschließend den verschiedenen Grenzräumen im 18. Jahrhundert zu: Zunächst der Südostgrenze als Konfliktzone zwischen Habsburg, dem Osmanischen und dem Russischen Reich, dann der Nordgrenze und den militärischen Auseinandersetzungen mit Preußen, insbesondere um Schlesien, schließlich der dritten Grenze, der gegenüber Frankreich, von den Kriegen Ludwigs XIV. angefangen bis zu den Napoleonischen Kriegen. Auch hier zeigt Mitchell, dass es ihm bei allen militärischen und politischen Auseinandersetzungen stets um das strategische Handeln geht.
Gegen den überlegenen Strategen Napoleon hatte die traditionelle österreichische Grand Strategy zunächst wenig Chancen. So beispielsweise im Falle der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches 1806 – höhlte Napoleon doch eine der wichtigsten habsburgischen Strategien aus, sich auf Klientelstaaten zu stützen. Denn während Habsburg die Schwachen gegen die Starken geschützt hatte, kehrte Napoleon dies um: Er belohnte die Starken auf Kosten der Schwachen und gewann so neue Bundesgenossen. »The linchpin of the Habsburg buffer system« (S. 209), das Hl. Römische Reich, konnte er auf diese Weise mit einem Federstrich beseitigen. Für die reichhaltige Reichshistoriografie mag diese Reduzierung des Alten Reiches auf ein habsburgisches strategisches Kalkül wohl schwer annehmbar sein – doch lässt sich dem dann einiges abgewinnen, wenn man eine innerhabsburgische Perspektive einzunehmen bereit ist.
Der dritte Teil (Kap. 8–10) ist dem 19. Jahrhundert gewidmet – jener Zeit also, da in der ersten Hälfte Österreich gestärkt aus den Napoleonischen Wirren hervorgeht, während in der zweiten Hälfte die Zeit der Grand Strategy zu Ende geht und die Monarchie, da sie ihre bisherigen diplomatischen und politischen »tools« aufgibt, in sich erodiert. Es überrascht nicht, dass Mitchell Metternich positiv bewertet und er ihn in einer Linie mit Kaunitz sieht – auch wenn die grundlegende Arbeit von Wolfram Siemann an keiner Stelle erwähnt wird. Nicht die wirtschaftliche Schwäche, auch nicht die vielbeschworene Nationalitätenproblematik könne den Niedergang der Großmacht Österreich ausreichend erklären: Tatsächlich habe »a combination of structural changes beyond the monarchy’s control and human errors« zu »the rapid erosion of Austria’s traditional strategic toolbox« geführt (S. 259). Eine zentrale Rolle spielt hier Graf Buol-Schauenstein, dessen folgenreicher Außenpolitik Mitchell großen Raum gibt.
Ein knapper »Epilogue« fasst die wichtigsten Thesen, die bereits im Einleitungskapitel genauer erläutert worden sind, noch einmal konkretisiert als »Habsburg Lessons«“ zusammen (S. 317–329). Fußnoten sind leserfreundlich an das Ende gestellt, Literatur- und Quellenverzeichnis (an österreichischen Quellen wurde im Wesentlichen das Kriegsarchiv konsultiert, bei den grafischen Darstellungen greift der Autor auf Unterlagen aus dem Center for European Policy Analysis zurück, die allerdings im Quellenverzeichnis nicht angeführt werden) sind umfangreich, lassen aber die bedeutendsten Standardwerke zur österreichischen Geschichte in deutscher Sprache vermissen, u. a. in Herwig Wolframs »Österreichischer Geschichte« die Bände von Karl Vocelka1 und Helmut Rumpler2, dann die wichtigen Arbeiten von Grete Klingenstein über Kaunitz, die mittlerweile zwölfbändige »Geschichte der Habsburgermonarchie 1848–1918«, die neueste von Thomas Winkelbauer herausgegebene »Österreichische Geschichte«. Die Liste ließe sich fortsetzen. Pieter M. Judsons neue Studie »The Habsburg Empire. A New History«3 findet sich zwar in der Bibliografie, eine wirkliche Auseinandersetzung mit seiner Deutung sucht man vergeblich.
Das Buch hinterlässt bei der Rezensentin einen zwiespältigen Eindruck – es ist viel von Strategie, Politik und Krieg die Rede, der Blick auf die inneren Verhältnisse der Monarchie wird weitgehend ausgeblendet. Und dass die meisten Zitate (in englischer Übersetzung) aus Sekundärliteratur stammen und, wenn sie als Motto vor einem Kapitel aufscheinen, gar nicht belegt werden, entspricht nicht dem unter Historikern üblichen »state of the art«.
Dennoch bringt die Lektüre gerade auch für Kenner/innen der Österreichischen Geschichte (der Autor stellt gleich zu Beginn fest, er werde nicht bekannte Fakten wiederholen, sondern sie nur neu betrachten) durchaus Gewinn, sie bietet einen nicht alltäglichen Blick »von außen« und von der Gegenwart her, von einem Politiker und Diplomaten, der aus der Geschichte für die Gegenwart lernen will. Ob allerdings die moderne Staatsdoktrin, die Mitchell ausschließlich auf imperialen Machtkategorien fußen lässt, tatsächlich auf die rechtliche Vielfalt vormoderner Staatlichkeit(en) übertragen werden kann, darüber ließe sich trefflich streiten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Brigitte Mazohl, Rezension von/compte rendu de: A. Wess Mitchell, The Grand Strategy of the Habsburg Empire, Princeton (Princeton University Press) 2018, XIV–403 p., 32 b/w ill., ISBN 978-0-691-17670-3, GBP 27,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71789