Seitdem das Supplikenregister der apostolischen Pönitentiarie im Jahr 1988 der historischen Forschung zugänglich gemacht wurde, haben sich die Initiativen vermehrt, die durch die Erschließung und Auswertung der dort aufbewahrten Materialien darauf abzielen, das enorme Erkenntnispotenzial dieser Quellen für unterschiedliche Fragestellungen freizusetzen und nutzbar zu machen. Das gewaltige Ausmaß der Dokumentation hat aber eine gewisse zeitliche und räumliche Beschränkung unumgänglich gemacht: Das vom DHI in Rom initiierte und betriebene »Repertorium Poenitentiariae Germanicum« ist das prominenteste Beispiel hierfür. Aufgrund der Bruchstückhaftigkeit der Empfängerüberlieferung sind hingegen bis heute nur vereinzelte Studien zu den von der Pönitentiarie ausgestellten und in partibus tradierten Urkunden erschienen – eine von diesen ist die Untersuchung von Paolo Ostinelli über das Bistum Como1.
Das seit den 1980er Jahren gewachsene Interesse am Supplikenregister der Pönitentiarie hat allerdings zu einer spürbaren Vernachlässigung der Geschichte dieser Behörde in der Zeit vor dem Beginn der reichhaltigen Registerüberlieferung (1430) geführt: So galt vor der Veröffentlichung der hier zu besprechenden Dissertation von Arnaud Fossier das zwischen 1907 und 1911 erschienene Werk von Emil Göller als einzige monografische Studie zum Thema2.
Der vorliegende Band versucht, diese Forschungslücke zu schließen und eine zugleich analytische und synthetisierende Geschichte der apostolischen Pönitentiarie vorzulegen, welche den Bogen von deren im Dunkeln liegenden Anfängen zu Beginn des 13. Jahrhunderts bis zu den Jahren des Großen Abendländischen Schismas spannt und somit die von der Forschung am meisten berücksichtigte Zeit (nach 1410 bzw. 1430) von der Untersuchung ausschließt. Fossiers Studie ist aber kein traditionelles, rein chronologisch aufgebautes Handbuch zur Geschichte der Pönitentiarie. Vielmehr handelt es sich um eine gewichtige Arbeit, die am Beispiel dieser bedeutsamen kurialen Behörde die historische Entwicklung von Phänomenen, die für die europäische Geschichte äußerst relevant waren, skizziert, etwa der administrativen und bürokratischen Verdichtung von Institutionen sowie der Praxis kirchlicher und kurialer Rechtsprechung.
Das erste Kapitel schildert die Entstehung und allmähliche Institutionalisierung der Pönitentiarie von den Anfängen um 1200 bis zu den Jahren der Verlegung der Kurie nach Avignon (ca. 1310) (S. 21–73). Vor allem die Jahre zwischen 1250 und 1260 werden für die Institutionalisierung der Behörde (vom mandatum zum officum) als entscheidend charakterisiert, wobei bei diesem Prozess der Amtszeit des dominikanischen Kardinals Hugo von Saint-Cher eine zentrale Rolle zukommt (S. 36–42). Das Personal der Pönitentiarie bestand in dieser Phase in erster Linie aus Prediger- sowie in etwas geringerem Umfang Minderbrüdern, die eine erfolgreiche Karriere in dem jeweiligen Orden oder an der römischen Kurie durchlaufen hatten (S. 42–48). Nicht zufällig aus dem Minoritenorden stammte auch der Papst, auf den die älteste bekannte normative Ordnung der Pönitentiarie zurückgeht: Nikolaus IV. (1288–1292). In seiner »Summa de absolutionibus et dispensationibus« wurde zum ersten Mal zwischen den Aufgaben des Kardinals Großpönitentiar (penitentiarius maior) und den poenitentiarii minores unterschieden und somit ein wichtiger Schub hin zu einer weiteren Funktionalisierung der Behörde gegeben (S. 67–72).
Die am Ende des 13. Jahrhunderts stärker zur Geltung gekommene Bürokratisierungstendenz trug erst in der Zeit des avignonesischen Papsttums nachhaltige Früchte, indem die Tätigkeit der Pönitentiarie eine zusätzliche organisatorische Verfestigung und eine regelrechte Routinisierung erfuhr. Diese Epoche steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels, das ähnlich wie das erste zunächst die normativ-institutionelle Entwicklung, sodann die personelle Zusammensetzung der Behörde behandelt (S. 75–134). Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der durch die Bulle »In agro dominico« von Benedikt XII. erlassenen Neuordnung der Pönitentiarie (1338), den ebendort festgelegten Tarifen sowie den Interaktionen mit der Kanzlei gewidmet (S. 82–91).
Die Verordnung von 1338 ist insofern wichtig, als sie für eine noch deutlichere Trennung zwischen den Zuständigkeiten des Großpönitentiars und der poenitentiarii minores sorgte: Letztere beschränkten sich fortan vor allem auf die Abnahme der Beichte von Besuchern und Pilgern, Ersterer übernahm zunehmend administrative Aufgaben und nahm immer stärker die Züge einer lebendigen »Gnadenquelle« an (S. 133f.). Was das Personal der Behörde anbelangt, ist die avignonesische Epoche durch den Aufstieg französischer Juristen gekennzeichnet, was der Entwicklung des Kardinalskollegs zu jener Zeit entspricht (S. 100–119).
Diplomatisch und kulturgeschichtlich ausgerichtet sind das dritte und vierte Kapitel, in denen die bürokratisch-administrative Entwicklung der Pönitentiarie in die Geschichte der Kanzleiformulare unter besonderer Berücksichtigung der Rezeption der Regeln der ars dictaminis eingebettet wird. Die sieben überlieferten Formularsammlungen der Pönitentiarie aus dem 13. und 14. Jahrhundert werden im dritten Kapitel in dem jeweiligen Entstehungs-, Anwendungs- und Überlieferungszusammenhang analysiert (S. 135–189). Die aus der Werkstatt der Praxis gewachsenen Formulare trugen wesentlich dazu bei, eine Art régime administratif ins Leben zu rufen und zu stabilisieren. Die Dynamik und Regeln der Komposition der in der Pönitentiarie erarbeiteten Briefe werden im vierten Kapitel behandelt (S. 191–240). Im Untersuchungszeitraum wurden die Texte weitgehend mit Rekurs auf Formeln aus Papsturkunden »modelliert«, wobei deren »Konstruktion« eher durch praktische als durch rhetorische Prinzipien inspiriert wurde (S. 239f.).
Die Klassifikation der Rechtsfälle, die der Pönitentiarie vorgelegt wurden, und die dahinter wirkende Logik sind Gegenstand des fünften Kapitels, in dem vor allem auf den kasuistischen Umgang mit den circumstantiae in der Praxis der Behörde eingegangen wird (S. 241–299). Im sechsten Kapitel setzt sich Fossier mit dem Prinzip der Dispens auseinander und behandelt eine Reihe kirchlicher dispensationes, mitigationes und relaxationes, die zu den Zuständigkeiten der Pönitentiarie zählten (S. 301–366). Das siebte Kapitel schildert die Herausbildung der spätmittelalterlichen Zensur aus der herkömmlichen Praxis der poenitentia publica, wirft die Frage nach den Kompetenzen der Pönitentiarie in diesem Bereich auf und stellt eine intensive Tätigkeit der Behörde vor allem auf dem Gebiet der Absolution von im Rahmen der processus generales verhängten Sentenzen sowie von den Exkommunikationen ipso facto und latae sententiae fest (S. 367–438).
Das achte und letzte Kapitel geht der Frage nach der konzeptuellen Trennung zwischen forum internum bzw. conscientiae und forum externum bzw. exterioris ecclesiae nach und verortet die Tätigkeit der Pönitentiarie in der »grauen Zone« zwischen beiden Bereichen (S. 439–501). In einem letzten Unterkapitel wird die Bedeutung des Begriffes scandalum in der theologischen und kanonistischen Reflexion des hohen und späten Mittelalters thematisiert. Dabei gelangt der Verfasser zu dem Schluss, dass ausgerechnet die unter anderem durch die Etablierung des römisch-kanonischen Prozesses bedingte Aufwertung dieser Kategorie um die Wende zum 13. Jahrhundert das Aufkommen einer Instanz bzw. Behörde wie der Pönitentiarie begünstigt habe, der in erster Linie die Aufgabe zukam, die Wahrnehmung und Rezeption eines scandalum in der Öffentlichkeit zu verhindern (S. 495–500). Das Fazit (S. 503–507), ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 509–579) sowie Abbildungs-, Personen-, Orts- und Sachregister (S. 581f.; 587–593; 595–597; 599–609) schließen den Band ab.
Unter vielen Gesichtspunkten ist die Veröffentlichung der Dissertation von Arnoud Fossier eine gute Nachricht für die Forschung. Mit ihr liegt nicht nur eine moderne Geschichte der apostolischen Pönitentiarie im 13. und 14. Jahrhundert vor, sondern auch eine problematisierende Studie, die einerseits zahlreiche aktuelle Forschungsfragen und -debatten berührt – etwa zu pragmatischer Schriftlichkeit oder Institutionalisierungs- und Bürokratisierungsprozessen im späten Mittelalter –, andererseits den Versuch wagt, die historische Bedeutung einer kurialen Behörde für die Institutions- und Geistesgeschichte Europas herauszuarbeiten. Einigen wenigen Mängeln zum Trotz – die Arbeiten von Florian Hartmann zur ars dictaminis werden beispielsweise nicht berücksichtigt3, eine Erwähnung der zur selben Zeit zunehmenden Bedeutung des Ablasses wäre sinnvoll gewesen – ist dieser Versuch als durchaus gelungen zu bewerten. Der Erfolg der apostolischen Pönitentiarie, so könnte man eine der Hauptbotschaften des Werkes resümieren, ist nicht nur durch die auch in anderen Kontexten fassbare »Modernisierung« administrativer Praktiken und Apparate zu erklären. Vielmehr ging die Bürokratisierung dieser kurialen Behörde Hand in Hand mit der Verwirklichung des päpstlichen Anspruchs auf einen Universalepiskopat in der grauen Zone zwischen forum internum und forum externum. Denn ausgerechnet die Kompetenz des römischen Pontifex und seines bureau des âmes, dispensationes zu erteilen und das scandalum zu neutralisieren, entwickelte sich zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Aktionsfelder des spätmittelalterlichen Papsttums, auf dem die plenitudo potestatis und die Handlungsweise der Päpste am effektivsten zum Ausdruck kamen. Dies im Rahmen einer soliden und informationsreichen Studie deutlich gemacht zu haben, ist das große Verdienst von Arnaud Fossier.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Étienne Doublier, Rezension von/compte rendu de: Arnaud Fossier, Le bureau des âmes. Écritures et pratiques administratives de la Pénitencerie apostolique (XIIIe–XIVe siècle), Roma (École française de Rome) 2018, 648 p. (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome, 378), ISBN 978-2-7283-1286-3, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73219