Dass Chronisten, ob bewusst, aus Vergesslichkeit oder mangelnder Bedeutung des Vermissten, Schweigen über manches bewahren, das sie (vermutlich) wissen müssten, ist ein bekanntes, quellenkritisches Problem, das jedoch nur selten zum expliziten Forschungsgegenstand gemacht worden ist. Daher ist der aus zwei Seminaren in Caen hervorgegangene Band zu begrüßen, in dem der Frage von philologischer und geschichtswissenschaftlicher Seite her bei verschiedenen antiken und mittelalterlichen Autoren nachgegangen wird, aber auch die methodischen Probleme des Themas oder die literarischen Hintergründe (Schweigen als »rhetorische Macht«) angesprochen werden.

Naturgemäß birgt das Thema eine Fülle unterschiedlicher, in den Beiträgen widergespiegelter Zugänge und Aspekte. Wenn schon Herodot an manchen Stellen betont, dass er etwas verschweige, obwohl er es wisse, dann entspringt das jeweils verschiedenen Motiven, die sich vielleicht einerseits dem Zweck einer Dramatisierung und andererseits dem Ethos einer Zurückhaltung des die Grenzen wahrenden Autors zuweisen lassen (so Christine Hunzinger).

Ganz anders gelagert ist die Frage, weshalb eine in der heutigen Forschung so wichtige Person wie Kleisthenes als einer der Begründer der attischen Demokratie in antiken Chroniken gleichsam »vergessen« wurde. Die mangelnde Heroisierung (so Françoise Ruzé) dürfte wohl nur eine mögliche Erklärung sein. Man kann ferner nicht nur nach schweigenden Chronisten, sondern auch nach deren Terminologie des Schweigens und dessen – rhetorischer und politischer – Funktion (bei Soldaten oder Rednern) in den Werken, wie bei Thukydides und Dionysius von Halicarnass, fragen (Stavroula Kefallonitis) oder »die Kunst, ein Stillschweigen zu füllen«, aus der zeitgenössischen Rhetorik erklären, wie in den späteren Vitae des Thukydides, die diesen zu einem Modell der Redekunst stilisieren (Aurélien Pulice). Beredtes Schweigen (reticentia) kann jedoch ebenso, als Scham (pudor) oder Überdruss (taedium) deklariert, Tadel an zeitgenössischen Zuständen ausdrücken, wie bei Tacitus (Fabrice Galtier).

Von einem anderen Zugang her kann man auch einen Jahresbericht bei verschiedenen Autoren auf deren Auslassungen hin vergleichen und so beispielsweise Tacitus als »senatorisch«, Sueton als »kaiserlich« und Cassius Dio als »hybrid« kennzeichnen (so Olivier Devillers zum Jahr 32 n. Chr.), doch ließe sich aus der Untersuchung eines Autors oder einer Schrift hier wohl doch ein dichteres Bild gewinnen. Bezeichnend, wenngleich wenig überraschend ist sicherlich auch das Verschweigen von Niederlagen oder Tributzahlungen in den spätantiken Kaiserpanegyriken aus Gallien, denen es um die Barbarenabwehr, aber auch um den Frieden geht (Christine Delaplace). Auffälliger erscheint ein Schweigen bei Ammianus Marcellinus über Christen an zentralen Stellen, wenn er sich anderwärts sehr wohl informiert über das Christentum zeigt; das lässt sich teils, wie hier, als subtile Kritik, teils, wie bei Victor von Vita im afrikanischen Vandalenreich, als Rücksicht auf die Herrschenden deuten (so Éric Fournier, der die Epoche dennoch nicht durch Intoleranz gekennzeichnet sehen möchte).

Den recht zahlreich vertretenen althistorischen folgen in dem Band lediglich zwei Beiträge aus dem lateinischen Mittelalter (und beide stammen eher aus »Randgebieten«), sodass sich hier leider kein ähnlich vielfältiges Bild ergeben kann (obwohl mittelalterliche Chronisten durchaus ähnlich verschwiegen sein konnten). In einer sehr präzisen Quellenbetrachtung, im Vergleich mit den anderen Quellen, untersucht Pierre Bauduin zwei Kapitel der »Gesta Normannorum ducum« Guillaumes de Jumièges über das burgundische Eingreifen des Herzogs Richard II. von der Normandie, der in dieser Quelle sehr ausführlich, aber keineswegs erschöpfend behandelt wird. Ob Nichtberichtetes tatsächlich absichtliches Verschweigen bedeutet, ist oft schwer zu beurteilen. Bauduin zeigt aber überzeugend die Eigenständigkeit des Berichts auf und betont, dass Guillaume den Widerspruch beider Kapitel – Richard wird in dem einen als Freund des französischen Königs, in dem anderen aber als dem Grafen von Burgund zugeneigt dargestellt – möglicherweise absichtlich hat stehen lassen, um beiden Ansichten zu genügen. Das wäre allerdings geradezu das Gegenteil eines Verschweigens.

Ebenfalls stärker quellenkritisch ausgerichtet ist der Beitrag von Marie-Agnès Lucas-Avenel: ein Vergleich des »Vaticanus anonymus« und seiner »Historia Sicula« des 12. Jahrhunderts, einer Geschichte Rogers und Robert Guiscards, mit seiner Vorlage, Gottfried Malaterra, die der Autor um ca. ein Drittel gekürzt hat, ohne dass die strukturierte Darstellung darunter leidet. Die Auswahl verrät eine andere Perspektive und stellt Roger in die Nachfolge Tankreds.

Zwei weitere Beiträge sind der griechisch-byzantinischen Chronistik gewidmet. In der »Chronographie« des Michail Psellos aus dem 11. Jahrhundert, die sich durch viele persönliche Kommentare auszeichnet, stellt Corinne Jouanno eine Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Einlösung durch den Chronisten fest. Das Schweigen kann Lob oder Rücksicht ausdrücken, echtes oder falsches Schweigen sein, aber auch eine damnatio memoriae bezwecken. Weshalb werden byzantinische Kaiser dann aber an anderen Stellen stattdessen schlechtgeredet?

Der nach 1204 schreibende Chronist Nicétas Chôniatès schließlich stellt nach dem Beitrag von Stanislas Kuttner-Homs Johannes II. Komnenos (1118–1143) im Rückblick als Idealherrscher heraus und verschweigt darüber dessen Schwierigkeiten und Missgeschicke. Hintergrund des Idealbildes ist danach die Absicht, eine Reichstragödie zu schreiben, an deren Anfang bewusst der Höhepunkt der Werte und Qualitäten der Dynastie der Komnenen gestellt wird.

Es ist zweifellos verdienstvoll, das schwierige Thema einmal exemplarisch genauer anzugehen, und die Beiträge legen in ihrer Gesamtheit klar sowohl die vielfältigen, möglichen Fragen und methodischen Herangehensweisen als auch die unterschiedlichen, jeweils individuellen Aspekte des Themas anhand der antiken und mittelalterlichen Autoren nahe. Aus den Beispielen ein kohärentes Bild, eine zeitliche Entwicklung oder räumliche Unterschiede zu erschließen, fällt schwer, zumal einige Beiträge »Schweigen« sehr weit einfach als Auslassungen gegenüber den Vorlagen betrachten und damit unbestritten traditionell wichtigen, quellenkritischen Fragen nachgehen und die Absichten des jeweiligen Autors einsichtig verdeutlichen können, aber wenig Neues zum engeren Thema selbst beizutragen vermögen.

Die Grenzen zwischen bewusster Auswahl und absichtlichem Verschweigen bleiben fließend. Hier können einige Beiträge, jeweils mehr oder weniger überzeugend, jedoch verdeutlichen, dass, wie und weshalb Schweigen als bewusstes Stilmittel verwandt wird, dabei aber ganz unterschiedlichen Absichten entspringt. Der anregende Band ist erst ein Aufriss des Themas, zu dem es noch viel zu tun gibt, ehe man ein Fazit wagen darf.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hans-Werner Goetz, Rezension von/compte rendu de: Corinne Jouanno (dir.), Les silences de l’historien. Oublis, omissions, effets de censure dans l’historiographie antique et médiévale, Turnhout (Brepols) 2019, 300 p., 3 tabl. en n/b (Giornale Italiano di Filologia – Bibliotheca, 20), ISBN 978-2-503-58431-7, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73222