Theologische Konzepte des 19. und 20. Jahrhunderts fanden in ekklesiologischen Debatten des Spätmittelalters ein reiches Traditionsreservoir. Deren fortschreitende Erschließung und immer differenziertere Durchdringung führt beinahe zwangsläufig zur Aufdeckung von Anachronismen, Missverständnissen und teleologischen Überblendungen. Der Essai von Bénédicte Sère konfrontiert moderne Paradigmen mit Erkenntnissen der Mediävistik und versucht so, die neuere Kirchengeschichte als permanent von Interessen der Gegenwart gelenkte Konstruktion zu demaskieren. Häufige chronologische Sprünge, die der Leserin und dem Leser viel Geduld und Übersicht abverlangen, decken derartige Traditionsbrüche nicht nur auf, sondern inszenieren sie kompositorisch.

Der Band seziert in jeweils eigenen thematischen Kapiteln sieben Paradigmen der neueren Kirchengeschichte, die zu ihrer Legitimierung jeweils auf spätmittelalterliche Traditionen zurückgriffen und diese teilweise bis zur Unkenntlichkeit verzerrten oder sogar in ihr Gegenteil verkehrten: Konziliarismus, Konstitutionalismus, Kollegialität, Reformismus, antirömischer Affekt (antiromanisme), Modernismus, Infallibilität. Hierbei sind die ersten fünf Kapitel zeitlich und inhaltlich so eng zeitlich miteinander verwoben, dass mitunter ähnliche Forschungsdebatten mehrfach erzählt werden müssen, handelt es sich doch um Aspekte der theologischen und kanonistischen Debatten der Zeit des Großen Abendländischen Schismas und der Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts sowie ihre modernen Aneignungen.

Als inhaltliche Klammer dieser fünf zunächst behandelten Konzepte eröffnet der Konziliarismus die Untersuchung (S. 21–66). Im Zentrum stehen, als »goldenes Zeitalter des Konziliarismus«, die Positionen Pierre d’Aillys und Jean Gersons sowie die Entwicklung bis hin zum berühmten Dekret »Haec sancta« (1415) und auf der Seite der modernen Aneignungen, die frühneuzeitlichen Interpretationsversuche der Werke Gersons sowie die bis in einzelne Verästelungen verfolgte »Haec Sancta«-Debatte. Im zweiten Kapitel wird die Suche nach dem ekklesiologischen Substrat politischer Ideen nachvollzogen (S. 67–95). Die alte Kontinuitätsthese von den Ursprüngen des modernen Konstitutionalismus im Konziliarismus (John Neville Figgis) bzw. in dessen hochmittelalterlichen Wurzeln (Brian Tierney) wird den Positionen gegenübergestellt, die vor einer Überinterpretation der Konzilien als Parlamente warnen (Harold J. Berman, Cary J. Nederman).

Das Kapitel zur Kollegialität sucht die breit referierten Debatten aus dem Umfeld des II. Vatikanum nach historischen Traditionslinien ab (S. 97–122). Die im vierten Kapitel untersuchten Gemeinsamkeiten von Reformgedanken des 15. und 20. Jahrhunderts gruppieren die Reformdebatten vor allem um den Begriff der »Epikie« und dessen Verwendung bei Gerson (S. 123–156). Spätmittelalterliche Reform wird auf einen christologischen Kern zurückgeführt, der in der Suche nach dem Abbild Gottes im Menschen zu fassen ist. Der Bruch zum Aggiornamento-Konzept des II. Vatikanum scheint offensichtlich und wird erklärt durch eine emotional aufgeheizte Überlagerung des Reformdenkens mit dem Konziliarismus. Eng damit verbunden sind die im fünften Kapitel verfolgten antirömischen Tendenzen, die ihr spätmittelalterliches Pendant in antipäpstlichen Stellungnahmen der Schismazeit finden.

Die zwei verbleibenden Paradigmen verlassen, zumindest was die spätmittelalterliche Vergleichsebene betrifft, die Kontroversen um Papst und Konzil. Die Modernitätskrise um 1900, die in der päpstlichen Enzyklika »Pascendi« (1907) gipfelte, wird mit der Situation an der Pariser Universität um 1270 konfrontiert, als das umstrittene Verhältnis von Theologie und Philosophie zu einer drastischen Beschränkung der Lehrfreiheit führte (S. 185–208). Dieses Kapitel wirkt wie ein eigentümlicher Fremdkörper im Argumentationsgang, der mit dem siebten Kapitel zur Infallibilität wieder in das mehrfach traktierte Feld der Schismazeit mit Gerson als Hauptrepräsentanten des spätmittelalterlichen Denkens zurückkehrt (S. 209–232).

Die Wurzeln des Infallibilitätsgedankens werden allerdings vor allem im Armutsstreit des 14. Jahrhunderts verortet. Das Konzept diente, etwa bei Ockham, zur Beschränkung der päpstlichen Machtvollkommenheit, da es den Papst an die Entscheidungen seiner Vorgänger band, und sei erst unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts praktisch in sein Gegenteil verkehrt worden.

Die sehr breit angelegte, essayhafte Darstellungsform mit notwendigen punktuellen Zuspitzungen fordert Einspruch geradezu heraus und bietet zahlreiche offene Flanken. Eine notorische Schwäche der Darstellung besteht in der verengten Auswahl der mittelalterlichen Vergleichsfolien auf genau die Felder, zu denen die Autorin zuvor bereits eigene Quellenstudien vorgelegt hat, mithin vor allem auf die Schismazeit mit der französischen Debatte um den Obödienzentzug gegenüber dem Papst bis zum Konstanzer Konzil und Jean Gerson als Dreh- und Angelpunkt des spätmittelalterlichen Denkens. Trotz der inzwischen reichhaltigen Forschungslage werden Debatten aus dem Umfeld des Basler Konzils beinahe völlig ausgeblendet.

Die wichtigen Autoren dieser Zeit – ein Johannes von Segovia, Johannes von Ragusa, Niccolò Tudeschi oder Nikolaus von Kues – werden nur beiläufig oder gar nicht erwähnt. Der Fokus der Darstellung übernimmt vertieft damit im Endeffekt die eigentlich angeprangerten traditionellen Verdrängungsaffekte, die den Basler Konziliarismus als schmerzvollen, weil für das Papsttum demütigenden Irrweg der Kirchengeschichte aus der katholischen Tradition tilgen möchten.

Inhaltlich schmerzt die Ausblendung der 1430er und 1440er Jahre an mehreren Stellen. Der als wichtiger Kronzeuge für die Rezeption des Konziliarismus in der Neuzeit angeführte Edmond Richer las eben nicht nur Gerson, sondern auch Basler Kanonisten wie Lodovico Pontano, wie die Pariser Handschrift lat. 4359 aus seinem Besitz illustriert. Französische Gelehrte wie Étienne Baluze besorgten sich konziliaristische Texte direkt aus Basel. Die Suche nach dem ekklesiologischen Kollegialitätsgedanken ignoriert die bis in die Geschäftsordnung des Basler Konzils geführte kirchliche Kollegialitätsüberzeugung, die weit über eine Gemeinschaft der Bischöfe hinausging.

Die Rekonstruktion spätmittelalterlichen Reformdenkens begnügt sich mit dem Substrat von Predigten und theologischen Traktaten, obwohl der Reformgedanke in zahlreichen Dekreten der Universalkonzilien und Diözesansynoden sowie in Visitationen von Klöstern und Pfarreien sehr praktisch greifbar ist und eben mehr bedeutete als spirituelle Erneuerung. Das Kapitel zur Infallibilität leidet unter der Ausblendung der vor allem in Basel vertretenen Lehre von der kirchlichen Unfehlbarkeit und ihrer pneumologischen Herleitung, die erst dann, von päpstlicher Seite usurpiert, zur mehrheitsfähigen Lehre avancieren konnte.

Ein zweiter, eher vertiefter als ausgeräumter Anachronismus der Kirchengeschichtsschreibung besteht in der unverhältnismäßigen Überbetonung theologischer Konzepte und Traditionen gegenüber der im 15. Jahrhundert weithin dominierenden kanonistischen Seite der Debatte sowie den Verschmelzungseffekten zwischen den Wissenschaftsdisziplinen, die eine isolierte Untersuchung theologischer Traditionslinien kaum noch vertretbar erscheinen lassen. Die referierte Polemik eines Gerson gegen die Juristen war jedenfalls nicht repräsentativ; meist arbeitete man fruchtbar zusammen, auf päpstlicher wie auf konziliarer Seite.

Die skizzierten Einwände schmälern keineswegs das große Verdienst des Buches, Sensibilität für Widersprüche und Anachronismen zwischen mittelalterlichen und modernen Konzepten zu wecken und die Fruchtbarkeit mediävistischer Forschung für moderne Debatten aufzuzeigen. Das flammende Plädoyer zugunsten eines »retour à l’archive«, also einer konsequenten historischen Erschließung der historischen Debatten, inklusive Handschriftenstudien und Editionen, ist vorbehaltlos zu unterstreichen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Thomas Woelki, Rezension von/compte rendu de: Bénédicte Sère, L’invention de l’Église. Essai sur la genèse ecclésiale du politique, entre Moyen Âge et modernité, Paris (Presses universitaires de France) 2019, 286 p., ISBN 978-2-13-078655-9, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73227