»Gott ist eine Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Kugelfläche aber nirgendwo ist« – die Geschichte dieser Gottesmetapher in ihren unterschiedlichen mittelalterlichen Kontexten und Varianten zu untersuchen, ist das Ziel der Studie von Edit Anna Lukács. Die mittelalterlichen Autoren, die von dieser Art der Gottesmetapher (je nach Autor auch: Definition) Gebrauch machten, führten diese auf antike Philosophen wie Cicero (Alain von Lille) oder Empedokles (Hélinand de Froidmont) zurück und präzisierten die Kugel teilweise als intelligibel (intelligibilis, Alain von Lille) oder unendlich (infinita, »Liber XXIV philosophorum«1). Die Philosophiehistorikerin und Literaturwissenschaftlerin untersuchte das Thema bereits umfassend in ihrer 2008 online publizierten Budapester Dissertation2, die den Titel »La Métaphore de la sphère dans les œuvres d’Alain de Lille, Jean de Meun et Vincent de Beauvais« trägt. Der nun erschienene schmale Band ergänzt diese Ergebnisse um nach 2008 erschienene Literatur.

Um die Verwendung der Metapher möglichst ganzheitlich zu verstehen, bildet die Autorin ein Textcorpus aus den Bereichen der Theologie, Literatur und Enzyklopädik, was ihr auch erlaubt, die Durchlässigkeit von Genregrenzen zu diskutieren. Im Einzelnen untersucht sie den »Sermo de sphaera intelligibili« (vermutlich nach 1177) und die »Regulae Theologiae« (wahrscheinlich um 1180/1190) des Alain von Lille, den Teil des »Roman de la Rose« aus der Feder des Jean de Meun (1270/1280), das »Speculum maius« des Vincent von Beauvais (um 1250) sowie dessen niederländische Adaption bei Jacob van Maerlant (»Spiegel historiael«, 1280er Jahre) und die Version eines anonymen Autors, der im lothringischen Dialekt schreibt (»l’Abrégé lorrain«, frühes 14. Jh.). Neben der detaillierten Interpretation der Metapher/Definition in ihrem jeweiligen Kontext geht es Lukács darum, diese Ergebnisse in abstraktere Fragestellungen einzuordnen: Wie kann man metaphorisch über Gott sprechen? Wie werden antikes philosophisches und mittelalterliches religiöses Wissen zur Koexistenz geführt? Wie hängen die Metaphernverwendung und zeitgenössische Reflexionen über Kosmos, Natur und Unendlichkeit zusammen (S. 9–18)?

Auf diese in der Einleitung angesprochenen Fragen und Überlegungen folgen drei Großkapitel, die jeweils von knappen Zusammenfassungen beschlossen werden, ein Gesamtfazit, eine Transkription der analysierten Passage des »Abrégé lorrain«, sowie eine nach Themen sortierte Bibliografie, die zwar nicht erschöpfend ist, aber die einschlägigen Titel zum Thema weitgehend verzeichnet und durch die sprachliche Vielfalt der Titel sogleich positiv ins Auge fällt (neben den genannten Quellensprachen liest Lukács Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Ungarisch).

Im ersten Großkapitel »Allégories, métaphores, mythe« verfolgt die Autorin das Ziel, die Arten der uneigentlichen Rede bei den von ihr ausgewählten Autoren nachzuzeichnen, um die Verwendung der Phrase kontext- und genregerecht herauszuarbeiten. Sie folgert, dass eine gewisse poetische Sprache, die in allen untersuchten Werken präsent sei, ebenso wie eine konzeptuelle Nähe zur apophatischen Theologie die Verwendung der Metapher begünstige (S. 63f.). Leider ist die Relevanz so mancher Kapitelpassagen nicht durchweg einsichtig, da Lukács ihre Arbeitsschritte und Ergebnisse kaum mit den Hauptfragestellungen des Buches verzahnt, sodass bisweilen der Eindruck einer separaten Studie innerhalb des Werkes entsteht. Auch liegt der Schwerpunkt, wie im gesamten Buch, auf dem »Roman de la Rose«, wodurch sich ein merkliches Ungleichgewicht in der Quellenanalyse und ein gewisser Widerspruch zum Buchtitel ergeben.

Erst im zweiten Großkapitel »Inventaire des genres autour de la sphère« wird die Phrase über die Kugelförmigkeit Gottes näher vorgestellt und bei den Autoren Alain von Lille, Jean de Meun und Vincent von Beauvais interpretiert. Viele der erst jetzt gelieferten Informationen zu den jeweiligen Werken und der Kugel-Metapher hätte man sich bereits zu einem früheren Zeitpunkt gewünscht (wie es Lukács in ihrer Dissertation auch angeordnet hatte), um das Allegorie-Kapitel besser verstehen zu können. Im Fazit gelangt die Autorin zu dem nicht ganz überraschenden Ergebnis, dass die Metapher immer als vom Genre abhängig zu verstehen sei; was sie aber verbinde, sei die Integration der »heidnischen« Philosophie und die Bemühung um ein holistisches Wissenskonzept (S. 104).

Der dritte und letzte lange Abschnitt »Quelle idée de Dieu?« greift die zu Beginn aufgeworfenen abstrakteren Fragestellungen zur Rede über Gott und zur Kosmosreflexion auf und versucht, den geistesgeschichtlichen Kontext der jeweiligen Metaphernverwendung zu etablieren. So nutze Jean de Meun die Metapher, um das Wunderbare und Unermessliche ausdrücken zu können. Alain von Lille dagegen hebe die Erkennbarkeit Gottes hervor, seine Unendlichkeit werde nicht explizit betont. Hier deutet Lukács an, dass im 13. Jahrhundert die Debatte über die Unendlichkeit Gottes aufkomme, womit man retrospektiv die Abwesenheit des infinita-Attributs bei Alain erklären könne (S. 117) – als Historikerin stehe ich derartigen Rückprojektionen aber eher zurückhaltend gegenüber.

Für Vincent, der die neutrale Formulierung Hélinands von Froidmont übernimmt und der Sphäre gar kein Attribut zukommen lässt, mag der Kontext der Kontroverse eher passen, die in der Studie breiteren Raum verdient hätte, um den Zusammenhang plausibel zu machen. Das Fehlen der Sphären-Phrase in den volkssprachlichen »Speculum«-Adaptionen führt die Autorin auf die fortgeschrittene Trennung von Philosophie und Theologie zurück, die eine als antik-pagan verstandene Sentenz in theologisch-moralischen Werken nicht mehr erlaube (S. 146, 148). Hier wäre zu überlegen, ob es nicht eher das völlig unterschiedliche Zielpublikum von »Speculum maius« auf der einen Seite und der volkssprachlichen Adaptionen auf der anderen Seite war, das die Elimination des schwer verständlichen gelehrten Konzepts bedingte.

Trotz der genannten konzeptionellen Schwächen und diskutablen Thesen wartet das Buch mit einer Vielzahl von klugen Einzelbeobachtungen zu den Quellentexten auf und stößt wichtige Fragen nach der Diffusion von Wissensbeständen und deren Neuinterpretation an.

1 Anna Lukács scheint den Thesen von Françoise Hudry zu folgen, wenn sie schreibt: »Ainsi, dès le XIIe siècle, quand le Livre des vingt-quatre philosophes réapparaît«. Hudry argumentiert für dessen Entstehung in der Spätantike, während andere Philosophiehistoriker es ins 12. Jahrhundert datieren (vgl. zusammenfassend die Kritik an Hudry bei dem von Lukács leider nicht zitierten Oliver Primavesi, Vorsokratiker im lateinischen Mittelalter, Bd. 1: Helinand, Vincenz, der Liber de vita et moribus und die Parvi flores, in: Oliver Primavesi, Katharina Luchner [Hg.], The Presocratics from the Latin Middle Ages to Hermann Diels. Akten der 9. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 5.–7. Oktober 2006 in München, Stuttgart 2011 [Philosophie der Antike, 26], S. 45–110); eine Auseinandersetzung mit der Kontroverse bei Lukács wäre daher wünschenswert gewesen. Der Aufsatz von O. Primavesi hätte auch geholfen, die Herkunft des sonst nicht belegten Sphären-Attributs intelligibilis bei Alain von Lille weiter zu erörtern (wie S. 115–117 unter »Un adjectif qui dérange« vorgenommen).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Anne Greule, Rezension von/compte rendu de: Edit Anna Lukács, Dieu est une sphère. La méthaphore d’Alain de Lille à Vincent de Beauvais et ses traducteurs, Aix-en-Provence (Presses universitaires de Provence) 2019, 168 p. (Senefiance, 67), ISBN 979-10-320-0236-0, EUR 17,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73229