Philippe de Mézières (im Folgenden abgekürzt: Ph.) hat ein umfangreiches Œuvre hinterlassen. Mittlerweile ist der Großteil seiner lateinischen und französischen Schriften kritisch ediert, übersetzt, kommentiert, wobei in den letzten Jahren der »Songe du Viel Pelerin« in zwei Bänden (2015) und die »Oratio tragedica« unter Federführung von Joël Blanchard (in Zusammenarbeit mit Antoine Calvet und Didier Kahn) neu herausgegeben wurden und die Forschung zu Ph. starke Impulse erfahren hat. Nach dem Band »Philippe de Mézières et l’Europe. Nouvelle histoire, nouveaux espaces, nouveaux langages« von 2016 widmet sich ein weiterer Band seiner Poetik (vgl. das Vorwort von Joël Blanchard1).
In seiner Einführung gibt Joël Blanchard einen Einblick in den Forschungsstand und fasst die Ergebnisse des Buches zusammen. Es ist in fünf Abteilungen unterteilt, in denen sich 13 Forscherinnen und Forscher mit einschlägigen Fragen auseinandersetzen. Zu jedem Autor nennt Blanchard die jüngsten für das Thema relevanten Veröffentlichungen.
Im ersten Teil mit der Überschrift »La rhétorique dans tous ses états« geht es zum Einstieg um die zahlreichen Sprichwörter, die Ph. verwendet. Maria Colombo Timelli, »Qui tient le moien, il va le seur chemin (Songe du viel pelerin, 1133,28–29). Les ›proverbes‹ dans le Songe de Philippe de Mézières« (S. 31–50) geht Form, Vorkommen, Häufigkeit und Zuschreibungen bzw. Quellen nach – manche sind nur im »Songe« nachweisbar – und beobachtet, wie Ph. Sprichwörter einsetzt, um seine Argumentation zu untermauern. In zwei Anhängen werden die Parömien aufgelistet.
Michelle Szkilnik, »Rimes, rythmes et couleurs de rhétorique dans le Songe du Vieil Pelerin« (S. 51–69) verfolgt im »Songe« Spuren eines verlorenen Textes, »Pèlerinage du Povre Pelerin«, geschrieben in gebundener Form, und Rückgriffe darauf. Analog zu Anregungen aus der ars dictaminis zur Gestaltung lateinischer Zweckprosa lassen sich im »Songe« dichterische Elemente, Reime und Rhythmen erkennen, wie dann auch in der lateinischen »Oratio tragedica«, die, wie in der Einführung zur kritischen Edition dargelegt, mit dem »Songe« und dem »Livre de la vertu du sacrement de mariage« eine Art Trilogie bildet. Die stilistische Ausschmückung dient also demselben Interesse.
Die Autorin formuliert die Hypothese, dass Prosa sich für das große Unterfangen eines Fürstenspiegels besser eignete, was Ph. zur réécriture des ursprünglichen Textes veranlasst haben könnte. Bemerkenswert jedenfalls, dass hier rudimentär auf ein opus geminum (vgl. S. 66 mit Anm. 48) zu schließen ist, zumal es kaum Beispiele dafür gibt, dass ein Autor sich an den dérimage eines eigenen Werkes setzt2.
Den zweiten Teil, »Stratégies oratoires«, leitet Sébastien Cazalas ein mit dem Beitrag »›Je suis triboullee jusque au ventre et au cuer‹. L’écriture de la lamentation dans quelques œuvres politiques de Philippe de Mézières et de Jean Juvénal des Ursins« (S. 73–90). Er vergleicht zwei Autoren, die mit ihrem Werk auf eine politische und moralische Krise reagieren. Beide greifen auf ein Genus zurück, das seit der Antike tradiert wird, Ph. in seinen zwei Briefen »Épître au roi Richard II« (1395) und »Épître lamentable et consolatoire« (1396/1397) und Jean Juvénal des Ursins (1388–1473) in einigen seiner politischen Briefe, und nutzen Mittel der Rhetorik, um der Klage wie der indignation glaubwürdigen Ausdruck zu verleihen.
Auch Jean-Claude Mühlethaler, »Par-delà la tristesse et l’indignation: modulations affectives et portée de la voix satirique chez Philippe de Mézières« (S. 91–118) zieht zeitgenössische Werke von Honoré Bovet zum Vergleich mit Ph. heran, der auch die reinigende Funktion der Satire in den Dienst des Kreuzzugsgedankens zu stellen versteht (»La Chevallerie de la Passion«, »L’Épître lamentable«, »Le Songe« in Teilen).
Bei Estelle Doudet, »Philippe de Mézières, orateur: les nouveaux territoires d’une posture d’auteur« (S. 119–133) geht es um das Selbstverständnis des Ph. als orator. Hypothetisch wird die Entscheidung für diese Art der Kommunikation im Zusammenhang mit den politischen und literarischen Diskussionen des beginnenden Humanismus gesehen. Doudet fragt auch, inwieweit Ph. sich in der Auseinandersetzung zwischen Petrarca und den französischen Intellektuellen positioniert. Wiederum: eine neue Poetik im Dienst des neuen Kreuzzuges.
Im dritten Teil, »L’herméneutique mézièrienne«, geht es um Allegorie und Allegorese. Philippe Frieden, »Exercices de lecture: usages de l’allégorie dans le Songe du Viel Pelerin« (S. 137–161) setzt sich mit den Thesen von Armand Strubel auseinander. Ähnlich wie Dante (Brief an Cangrande, »Vita Nova«) und Petrarca (Beschreibung des Aufstiegs auf den Mont Ventoux) die Lektüre als Übung geistigen und geistlichen Aufstiegs verstehen, sieht er im »Songe« eine Allegorese für Karl VI.
Daisy Delogu, »Allegory, Semiotics, and Salvation: the parable of the talents in the Songe du viel pelerin« (S. 163–185) geht aus von Ph.s Hauptquelle, nämlich Gregor dem Großen, und zeigt, wie die Allegorie zu Objektivierung führt und wie Ph. sein eigenes Werk auslegt.
Andrea Tarnowksi, »Philippe de Mézières, All at Once (Allegory and the Visual)« (S. 187–203) setzt die Gestaltung des Codex, den Ph. selbst durchgearbeitet und korrigiert hat, in Beziehung zum Inhalt des »Songe«: die Funktion der überaus detaillierten Inhaltsangabe, die Entsprechung zwischen dem Text und den drei Illustrationen in der Handschrift aus der Bibliothèque de l’Arsenal, und konstatiert, dass sich Inhalt und Form gegenseitig ergänzen.
Der vorletzte Abschnitt mit dem Titel »Théâtralité et rite« enthält zwei Beiträge. Helen Swift, »›La devise et forme singuliere de la fin du povre pelerin‹: ritual configuration and rhetorical invention in Philippe de Mézières’s Testament (1392)« (S. 207–225) sieht die letzte Verfügung des Ph. mit Anordnungen für die Vorbereitung des Todes und Bestimmungen für das Begräbnis im Zusammenhang mit den artes moriendi. Die Entscheidung für die Volkssprache wirft die Frage auf, an wen sich das Testament richtet. Swift bezieht die Inschriften für das Epitaph in ihre Interpretation ein.
Bei Adrian Armstrong, »Griselda, The Musical? From the Livre de la vertu du sacrement de mariage to L’Estoire de Griseldis en rimes et par personnages« (S. 227–247) kommt die strukturalistische Kommunikationstheorie (Dialog Autor/Sprecher – Leser/Hörer) zum Zug. Die von der Forschung meist stiefmütterlich behandelte Bearbeitung der Griseldis-Geschichte, die Boccaccio notiert und Petrarca lateinisch bearbeitet hat, wird von Ph. nachgedichtet: Verse und Reime im Dienst einer performance (mit Textproben; vgl. auch den Hinweis auf das liturgische Spiel zum Fest der Praesentatio Mariae, S. 133).
Im letzten Teil, »Poétique de l’alchimie chez Philippe de Mézières?«, versucht Catherine Gaullier-Bougassas, »L’écriture du miroir du prince au XIVe siècle: Le Songe du Viel Pèlerin de Philippe de Mézières et le Secretum secretorum« (S. 251–269) nochmals eine Annäherung an den »Songe« als Fürstenspiegel. Das »Secretum secretorum« als eine der Hauptquellen hebt auf Alexander den Großen ab, der jedoch durch das Verfahren des Ph. nicht als Vorbild erstrahlt, sondern zum negativen Gegenmodell des idealen Prinzen wird.
Isabelle Fabre, »Le ›Viel Solitaire‹ en son miroir: la poétique du Livre de la vertu du sacrement de mariage de Philippe de Mézières (c. 1385–1389) à la lumière du Roman de la Rose« (S. 271–289) vergleicht den »Livre de la vertu« mit seinen Bildern und Allegorien mit dem Rosenroman und rückt Ph. mit seinem pastoralen Anliegen in die Nähe Jean Gersons. Fabre erkennt darin wesentliche Elemente von Ph.s persönlicher Frömmigkeit und bezeichnet dieses Werk, das zu seinen letzten gehört, als »Seelenspiegel«.
Joël Blanchard und Antoine Calvet, »L’›apothicairerie‹ de Philippe de Mézières, creuset d’une poétique nouvelle?« (S. 291–307) liefern die Skizze einer Interpretation der erstmals edierten lateinischen »Oratio tragedica«. Sie sehen in ihr einen texte de dévotion, ein Drama, das zugleich das Drama der Person und des Lebens des Ph. wiederspiegelt (vgl. S. 307), gerade im Zusammenhang mit der Idee eines neuen Ritterordens der Passion Jesu Christi nach der Eroberung und dem Verlust Alexandriens 1365. Vorbild für Ph. ist die »Rhetorica divina« des Wilhelm von Auvergne (1180–1249), der sich seinerseits an Ciceros »De inventione« orientiert. Weitere Quellen und die Rezeption aktueller, sogar zeitgenössischer Schriften werden erörtert, Ph.s Poetik und seine Art der Exegese, biblische Symbolik und Metaphorik, sein literarischer Anspruch. Für Weiteres sei auf die Einleitung zur Edition der »Oratio tragedica« verwiesen, deren wesentliche Punkte die beiden Autoren hier elegant zusammenfassen.
Ph. nimmt mehrfach Bezug auf Bilder, einmal auf eine Darstellung der arma Christi, zum anderen auf eine Passionsdarstellung (vgl. S. 297, Anm. 14 und S. 298, Anm. 17) auf einer tabula larga et quadrata parieti af(f)ixa. Damit könnte er die auf einer großen Messingplatte eingravierte Kreuzigung Christi meinen, die später als sein Epitaph diente und jetzt im Museum Mayer van den Bergh zu Antwerpen aufbewahrt wird (vgl. zur Grabinschrift S. 53; Erwähnung der Platte auch S. 191)3.
Eine Auswahlbibliografie mit wichtigen Publikationen seit 2000 und ein Index mit Personen- und Ortsnamen sowie Begriffen erleichtern den Zugang zu den im Buch angeschnittenen Themen. Ein Verzeichnis der zitierten Handschriften wäre wünschenswert gewesen.
Am Ende seiner Einführung (S. 24–28) formuliert Blanchard die Bereiche, die weiterhin zu erforschen sind. Denn der Band beschäftigt sich vorwiegend mit den beiden großen, jüngst edierten Werken, nämlich dem »Songe« und der »Oratio tragedica«. Auf dieser Grundlage sollte weitergemacht werden (vgl. auch S. 15).
Ph., dessen Aufscheinen Blanchard mit einem Kometen vergleicht, wird mit seinem Werk in den Kontext der zeitgenössischen Literatur und Poetik gestellt. Er schreibt auf Lateinisch und in der Volkssprache, er baut auf literarischen Traditionen auf und wagt zugleich viele Neuerungen. Zahlreiche Quellen und Referenzwerke konnten identifiziert werden. Vielleicht ließe sich vor diesem Hintergrund eine Art Handbibliothek des Ph. rekonstruieren. Es wäre auch aufschlussreich zu untersuchen, in welchem Maß sich Ph. auf eigene Werke bezieht und welche Wirkung dieses so umfangreiche und inhaltsschwere Œuvre hatte, obwohl es teilweise kaum verbreitet war. Zumindest sind etliche Schriften nur noch in einem Codex überliefert, einige scheinen verloren zu sein.
Trotz aller Rückschläge für Ph., besonders was die Befreiung der Heiligen Stätten betrifft, bleibt nach der Lektüre dieses sorgfältig konzipierten Bands der Eindruck – selbst wenn die eine oder andere Interpretation zur Harmonisierung tendiert – einer großen Kraft des Ausdrucks, einer Kohärenz von Reformgedanke und Humanismus (vgl. S. 12), von Leben und Werk, die letztlich ihre Vollendung gefunden hat, nach dem im Band zitierten Sprichwort (S. 50): le phillozofe dit que la chose de laquelle la fin est bonne, il convient qu’elle soit bonne.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Mechthild Pörnbacher, Rezension von/compte rendu de: Philippe de Mézières, Rhétorique et poétique. Édité par Joël Blanchard, avec la collaboration de Renate Blumenfeld-Kosinski et Antoine Calvet, Genève (Librairie Droz) 2018, 325 p. (Cahiers d’Humanisme et Renaissance, 157), ISBN 978-2-600-05962-6, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73233