Das vom 2003 emeritierten Professor für Mittelalterliche Geschichte (Gent, Belgien) Ludo Milis ursprünglich 2011 unter dem niederländischen Titel »Van waarheden en werkelijkheid« veröffentlichte Werk soll in seiner hier vorliegenden französischen Übersetzung in der Reihe »Culture et société médiévales« aus dem Jahr 2017 genauer betrachtet werden.
Tatsächlich wird nach der Lektüre der niederländische Originaltitel dem Inhalt des Buches weitaus gerechter als die im Französischen aufgeworfene, umfassendere Erwartungshaltung. Dieser Problematik beugt Milis bereits in seinem Vorwort (S. 9–14) vor, indem er den Dualismus zwischen der mittelalterlichen Welt, wie sie faktisch gewesen ist, gegenüber derjenigen, wie sie von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde, betont. Letzterem widmet der Autor seine Leitfrage und somit den inhaltlichen Fokus, welchen er auf Basis einer Auswahl von über 30 Schriften aus der Historiografie zumeist geistlicher Provenienz (Chroniken, Annalen etc.) sowie hagiografischen Quellen erarbeitet. Da die Monografie sich dezidiert an eine offene Leserschaft sowie Studierende und weniger an das Fachkollegium wendet, erfolgen bis auf wenige Ausnahmen kaum Querverweise zu weiterführender Literatur oder Belegstellen aus der Forschung.
Im Gegensatz dazu liefern die Fußnoten zuverlässig die zitierten oder angemerkten Passagen der mittelalterlichen Quellen als genaue Fundstelle oder Originalzitat. Überhaupt scheint sich die Untersuchung, um einer retrospektiven Missinterpretation entgegenzuwirken, bewusst einer historistischen Arbeitsweise eines Ranke verschrieben zu haben, vor allem »die Dinge« – und zwar in Ausführlichkeit – »reden zu lassen«1, welche vom Autor freilich angemessen kontextualisiert und präzisiert werden. Den zeitlichen Rahmen beschränkt Milis auf die Periode zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert, während der Raum zwischen der Iberischen Halbinsel und der Levante die geografischen Grenzen repräsentiert – mit einem wachsenden Schwerpunkt auf Westeuropa im Verlauf des Werks.
Dieses gliedert sich in drei, stark binnendifferenzierte Hauptkapitel, von denen das erste (»Im Namen des Vaters«) sich wohl treffend als Ereignisgeschichte der Religionsgeschichte einstufen lässt. Ausgehend vom katholisch-abendländischen Standpunkt werden im Kontext der Kreuzzugszeit die Auseinandersetzungen mit sowie das Verhältnis zu der Welt von Andersgläubigen (westliche Häresien, Ostkirchen, Judentum und Islam) präsentiert. Dabei bedient Milis sich erschöpfend des Weltbildes des prominenten Zeitgenossen Jacques de Vitry in seiner »Historia Orientalis«, was der Quellengrundlage dieses Abschnitts (S. 15–63) eine gewisse Einseitigkeit verleiht und sich so nicht ohne Weiteres auf »den Menschen des Mittelalters und sein Weltbild« übertragen lässt, ohne sich einer Kritik der Pauschalität und Unausgewogenheit ausgesetzt zu sehen. Daraus rührt Milis – inhaltlich durchaus berechtigtes – Allgemeinurteil einer von Intoleranz, Schmähung und Kampf gegenüber religiöser Devianz geprägten christlichen Weltsicht des Abendlandes nach innen und außen.
Die weniger ausführlich sowie eher vereinzelt aufgegriffenen Quellenbeispiele (Emo von Wittewierum, Lambert von Ardres, Arnolf von Lübeck, Alpert von Metz und Guibert von Nogent) und die darin kolportierten Mentalitäten dieses Kapitels gewinnen erst an späterer Stelle des Buches mehr an Profil. Nicht zuletzt der Quellengrundlage und -auswahl geschuldet ist die Tatsache, dass die bis hier gewonnenen Ergebnisse nicht gelungen in eine Gesamtschau des Weltbilds der mittelalterlichen Menschen integriert werden können. Ähnlich einem separaten Exkurs (als 14. Unterkapitel anhand eines nicht-geistlichen Quellenbeispiels, Bernardo Maragone aus Pisa) wird die Sicht der Laien nur knapp danebengestellt und – nicht nur optisch – an den Kapitelrand gedrängt.
Mit dem Konzept von Ehre und ihren Opponentinnen Scham, Schande und Sünde – Milis greift hier Werkzeug und Methodik der jüngeren shame studies auf – und deren Rolle für die Welt des abendländischen Hochmittelalters eröffnet der Autor sein zweites Untersuchungsfeld (»Der Preis der Schande«, S. 65–111). Darin gewinnt die Analyse eine stärker anthropologisch-emotionale und psycho-soziale Komponente, in Einklang mit der einsetzenden und schließlich für das christliche Mittelalter allseits gültigen und gelebten Eschatologie. Hierfür leitet der Autor jeden der Begriffe mit modernen Definitionen theoretisch ein, passt sie bisweilen an den gewählten Kontext an und liefert anschließend einschlägige, längere Quellenzitate (Suger von Saint-Denis, Salimbene von Adam), welche – mal mehr, mal weniger – ausführlich interpretiert werden.
Die Geschlechtergeschichte und Geschichte der Sexualität rückt Milis in seinen Textbeispielen dabei auffällig in den Vordergrund. Der Liebesgeschichte zwischen Abaelard und Heloïse räumt er so den größten Platz dieses Kapitels ein (S. 100–107) – verglichen mit anderen Unterkapiteln, welche größtenteils nur wenige Absätze einnehmen. Erneut scheint sich ein für »den Menschen« typisches »Weltbild« des Mittelalters angesichts der überwiegenden Prominenz der aus den Quellen erhobenen Fälle (höhere Geistlichkeit, Herrscher, Adel) nur schwer herauszuarbeiten lassen.
Umso mehr gelingt dem Autor im dritten Teil der Arbeit (»Flirten mit dem Jenseits«, S. 113–155) ein für den Leser gleichsam ausgewogeneres wie vorstellbareres Verständnis vom Innen- und Außenleben des mittelalterlichen Menschen in seiner Zeit. Durch die Annäherung über die Allgegenwart des Todes, die Gewohnheiten menschlichen Handelns, Denkens und Erklärens, das dadurch realiter gelebte Gewohnheitsrecht und die daraus entstehenden Widersprüche zu etabliertem kanonischen Recht und kirchlich-institutionell vorgesehener Ordnung (Fortbestand magischer Praktiken, Emanzipation der Städte, Traumdeutung etc.) werden wesentliche Aspekte geliefert, welche zwar die Ergebnisse nicht zu einem Weltbild zu vervollständigen vermögen, sehr wohl aber entscheidend ergänzen.
Dass ein solch monumental anmutendes Vorhaben weder angesichts des Seitenumfangs möglich noch von Ludo Milis beabsichtigt war, untermauert der Autor in seinem Nachwort (S. 157–159). Durch seine bewusste Selektion respektive das absichtliche Weglassen anderer möglicher Themenblöcke wird er seinem selbst auferlegten Anspruch, »Einblick ins Innere einiger Aspekte mittelalterlicher Mentalität« (S. 158) zu gewähren, durchaus gerecht. Zudem stellt Ludo Milis über seine Analyse verteilt Parallelen bzw. Kontinuitäten zur Gegenwart her2, sei es im fundamentalistisch geprägten Islam, sei es in der ländlichen Peripherie der Toskana. Sein Buch besticht vor allem durch den reichen Fundus an unmittelbar zugänglich gemachten Originalquellen, welche durch die bildlichen Darstellungen und die für das breite Publikum sehr nützlichen Kurzbeschreibungen der verwendeten Hauptquellen (S. 161–167) gewinnbringend erhellt werden. Eine Bibliografie wäre neben der Überprüfbarkeit vor allem für die vertiefende Lektüre seitens eines interessierten Publikums dennoch wünschenswert gewesen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Patrick H.-J. Nitzsche, Rezension von/compte rendu de: Ludo Milis, L’homme médiéval et sa vision du monde. Ruptures et survivances. Traduit du néerlandais par Jacques Fermaut, Turnhout (Brepols) 2017, 179 p., 28 b/w ill. (Culture et société médiévales, 31), ISBN 978-2-503-57343-4, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73234