Die Zahl der Karlsbiografien ist fast schon Legion, aber kaum eine wurde so langfristig und sorgfältig vorbereitet wie diese. In mehr als zwei Jahrzehnten legte Janet Nelson Jahr für Jahr längere und kürzere Aufsätze zu Einzelaspekten der Zeit Karls des Großen vor. In der Bibliografie dieses Buches werden 53 Titel angeführt, von denen viele zum größeren Teil in den Text eingeflossen sind. Wie ein Mosaik setzt sich die Biografie aus diesen zahlreichen Einzelstudien zusammen. Dabei täuscht der Umfang des Buches über die Länge der Biografie. Nelson gibt den Quellen aus der Zeit Karls des Großen breiten Raum und zitiert oft über Seiten hinweg Textpassagen in Übersetzung. Das Buch ist somit nicht allein eine Biografie, sondern auch eine umfangreich kommentierte Quellensammlung. Fragen der Datierung und Einordnung der Texte finden dabei ausführlich Berücksichtigung. Der Rahmen ist strikt chronologisch: Die Ereignisse eines jeden Jahres werden wie an einer Kette aneinandergereiht, ohne dass sie zu einer übergeordneten Erzählung verflochten werden.

Ungeachtet dieser langen Planung kann das Werk auch als Widerlegung der letzten großen Karlsbiografie aus der Feder Johannes Frieds (2013) gelesen werden. Fried stellte im Prolog seines Buches apodiktisch fest: »Eine Karlsbiografie in modernem Sinne ist unmöglich1.« Er begründete dies mit dem Fehlen von privaten Nachrichten, von Erinnerungszeugnissen und persönlichen Lebensspuren. Allein die Bemerkungen, die am Rand der Abhandlung über die Bilderfrage (»Opus Caroli«) überliefert sind, ließ Fried als Selbstzeugnisse im engeren Sinn gelten. Nelson äußert dagegen gleich auf der ersten Seite ihren Standpunkt, dass Karls außergewöhnliche Persönlichkeit in den Texten, Artefakten und Erinnerungen durchscheine, die aus seiner Zeit erhalten sind. Auf dieser Grundlage könne man seine Motive, Pläne und Entscheidungen, ja sogar seine Emotionen rekonstruieren. Besonderes Vertrauen hat Nelson in die Quellengattung der königlichen Erlasse, der sog. Kapitularien, in denen sie die »Stimme« Karls des Großen zu hören glaubt. Dies macht sie für die frühen Reformerlasse wie die »Epistola generalis«, die »Admonitio generalis« und das Frankfurter Kapitular von 794 ebenso geltend wie für weniger bekannte Verordnungen und Briefe aus den Kaiserjahren. Als charakteristisch bezeichnet sie z. B. die Mischung von Egozentrik und Altruismus (S. 250), den ungestümen Duktus (S. 250), das Bewusstsein der Dringlichkeit (S. 262), den Ego-Modus (S. 262), die Vorwürfe voller Wut (S. 391) und die fordernde Haltung gegenüber den Adressaten (S. 423). Eine philologische Methode, die sich auf weitere Texte übertragen ließe, ist dabei jedoch nicht erkennbar, so überzeugend die Argumente im Einzelnen sind und so gerne man der Expertise einer echten Kennerin folgt.

Die Konsequenzen, die sich aus dieser Lektüre der Kapitularien und anderer Schlüsselquellen ergeben, sind groß. Nelson entwirft ein Bild von Karls Charakter, das sich nirgendwo sonst nachlesen lässt. Karl war eine außergewöhnliche und vielseitige Persönlichkeit (S. 1), er fühlte sich besonders von göttlicher Gnade gesegnet (S. 13), hatte ein überbordendes Selbstvertrauen (S. 13), ein Talent für das anekdotische Erzählen (S. 78), eine gewinnende, wachsame und gesellige Art (S. 78), er glänzte im strategischen Denken (S. 116), kurzum: ein praktischer, bodenständiger Mann mit erstaunlicher Energie, der sich in seiner Haut rundum wohlfühlte (S. 491–493). Was aber der Autorin am meisten Respekt abnötigt, ist Karls Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen und Veränderungen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Karl, so Nelson, war ein leibhaftiger Weichensteller (S. 285: »real-life signalman«).

Bei aller Bewunderung für Karl den Großen kommen auch die weniger leuchtenden Aspekte seiner Persönlichkeit zur Sprache. Die Absetzung Tassilos lasse eine rücksichtslose Planung erkennen, das Vorgehen in Sachsen sei von Gewalt und Zerstörung gekennzeichnet gewesen, und selbst die Eliten des Frankenreichs hätten die Willkür und Härte des Königs gefürchtet (S. 223). Karl habe jedoch aus diesen Erfahrungen gelernt und in zunehmendem Maße ein Regiment geführt, das auf Assoziation und Konnektivität anstelle von Kontrolle und Distanz beruht habe. Darin habe das Rezept seines erfolgreichen Regierungshandelns gelegen (S. 414, 438, 468).

Die Karlsbiografie von Janet Nelson ist somit tatsächlich ein »new life«. Keine andere Biografie stellt so konsequent die Persönlichkeit, die charakterliche Entwicklung und die familiären Beziehungen in den Mittelpunkt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Karl Ubl, Rezension von/compte rendu de: Janet L. Nelson, King and Emperor. A New Life of Charlemagne, London (Allen Lane) 2019, XXXVI–668 p., 16 ill., 15 maps, 3 geneal., ISBN 978-0-713-99243-4, GBP 30,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73235