Das von Gerd Althoff 1993 geprägte Konzept der »Spielregeln der Politik« erlebt seit über zwei Jahrzehnten Konjunktur. Mit dessen Hilfe war es der jüngeren Mediävistik möglich, herrscherliche und fürstliche Entscheidungen, welche die ältere Forschung allein im Lichte von Rechtsnormen und ökonomischen Interessen interpretiert hatte, auch als Produkte von Erwägungen kulturpolitischer Natur einzustufen. Mit der Ausnahme eines Beitrags von Franz Felten zu kurialen Verhandlungen im 14. Jahrhundert ist jedoch diese Kategorie bisher nur auf kaiserliche, königliche und fürstliche Höfe angewandt worden, während die päpstliche Kurie weitgehend unberücksichtigt geblieben ist.
Ziel des vorliegenden von Jessika Nowak und Georg Strack herausgegebenen Sammelbandes ist es, diese Lücke zu schließen und die Brauchbarkeit des Spielregeln-Konzepts für den Papsthof zu verifizieren. Dabei beschränken sich die Herausgeber nicht darauf, Althoffs Konzept auf den kurialen Kontext zu übertragen, sondern sie verwenden als Arbeitshypothese die absichtlich breit angelegte Kategorie des stilus curiae, womit sowohl schriftlich fixierte Kanzleiregeln, liturgische und zeremonielle Vorschriften als auch ungeschriebene Verhaltensnormen gemeint werden. Das Augenmerk der Publikation, die auf den Ergebnissen eines von 2014 bis 2018 von der DFG geförderten wissenschaftlichen Netzwerks beruht, gilt den Quellen aus dem Zeitraum vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Ein zweiter Sammelband, der sich in Vorbereitung befindet, wird eine thematische Annäherung an die Konflikt- und Verhandlungsführung am Papsthof bieten.
Auf die Einleitung der Herausgeber (S. 1–18) folgt eine Reihe zumeist auf narrativen Quellen basierter Beiträge. Der Aufsatz von Klaus Herbers (S. 19–38) erhellt die Veränderungen in der Verhandlungspraxis kirchlicher Streitparteien auf der Iberischen Halbinsel zwischen dem ausgehenden 11. Jahrhundert und dem Vierten Laterankonzil, wobei die Verdichtung und Professionalisierung der Prozessführung als wesentliche Züge des Wandels ausgemacht werden können. Die »Historia Compostellana« des Magisters Giraldus, womit sich Daniel Berger beschäftigt (S. 39–66), kann insofern als ein exzellentes Beispiel für den Themenkomplex stilus curiae gelten, als dass sie den Erfolg des Compostelaner Kanonikers auf die Berücksichtigung von bestimmten Verhaltenskonventionen zurückführt, zu denen die Miteinbeziehung von Beratern und Vermittlern, ein demütiges Auftreten sowie die Zurschaustellung von Dankbarkeit zählten.
In den Chroniken von Montecassino und Falcos von Benevent erkennt Markus Krumm zwei Ebenen der Konfliktaustragung (S. 67–95): zum einen die formal-prozedurale Ebene, die Klage, Ladung, Beweisführung sowie die Findung, Bekanntmachung und Umsetzung des Urteils umfasste, zum anderen die außernormative Ebene, zu der das Ignorieren von päpstlichen Mandaten, geheime Gespräche, Geschenke und ähnliche Tricksereien gehörten. Claudia Zey geht in ihrem Aufsatz auf den funktionalen Charakter des mehrstufigen kurialen Gerichtsverfahrens ein, wie dieser aus dem im »Chronicon« des Klosters St. Peter in Oudenburg überlieferten Bericht des Abtes Hairulf über seinen Rombesuch von 1141 hervorgeht (S. 97–117): Die Gepflogenheit, Prozesse in die Länge zu ziehen, habe die Funktion erfüllt, die Streitparteien mit kurialen Abläufen, Persönlichkeiten und Standpunkten vertraut zu machen, was indirekt zur Akzeptanz des jurisdiktionellen Primatsanspruchs des Papstes beitrug.
Eine Vielzahl an Einblicken in die kuriale Verhandlungspraxis bietet der Bericht des Thomas Marlborough über den 1202 bis 1207 durchgeführten Prozess der Abtei Eversham gegen den Bischof von Worcester, mit dem sich Harald Müller befasst (S. 119–135). Wertvoll erweist sich dabei die in dieser Quelle vorgenommene terminologische Unterscheidung zwischen mos, modus und secreta curiae, wobei die Beherrschung der damit gemeinten Verhaltensnormen als Mittel der narrativen Profilierung des Autors eingestuft werden kann.
Auf der Grundlage kurialer Dokumentation rekonstruiert Maria Pia Alberzoni drei Urteilsfindungen Innozenz’ III., die zur Entlarvung von Urkundenfälschungen aus der mailändischen Kirchenprovinz führten (S. 137–158). Einer der drei Fälle gab dem Papst Anlass, sich über die Kriterien zur Erkennung von Falsifikaten zu äußern, unter denen der stilus bzw. modus dictandi, d. h. die Konformität mit dem Sprachstil päpstlicher Urkunden eine bedeutende Stellung einnahm. Die reichliche aus Urkunden, Registern und Formelbüchern bestehende Überlieferung englischer Bischöfe des 13. Jahrhunderts behandelt Thomas W. Smith, der die zentrale Bedeutung der Prokuratoren sowohl in Fragen der Diplomatik als auch der Diplomatie hervorhebt (S. 159–174).
Um englische Quellen geht es auch im Aufsatz von Barbara Bombi, konkret um das in Rotulus-Form geführte und überlieferte Register der Korrespondenz zwischen englischer Krone und apostolischem Stuhl (S. 175–194). Unterstrichen wird dabei die Sorgfalt, mit der die damit beauftragten Notare auf den cursus und die diplomatischen Konventionen der Papstkanzlei achteten. Das enorme Potenzial der größtenteils immer noch unerschlossenen »Acta Aragonensia« auch für die Frage nach dem stilus curiae verdeutlicht der Beitrag von Sebastian Roebert (S. 195–211). Der Verfasser geht auf das 356 Schreiben umfassende Register Nr. 321 des o. g. Bestandes ein, anhand dessen die vielfältigen Aktivitäten Jakobs II. im Zusammenhang mit seiner Romreise von 1297 beleuchtet werden können.
Mit der Aussagekraft von Kardinalstestamenten in Bezug auf die Frage nach den Modalitäten kurialer Konfliktaustragung befasst sich Andreas Kistner (S. 213–233). Eine besondere Eigenschaft dieser Quellenart sieht er darin, dass sie erst nach Erteilung der licentia testandi durch den Papst verfasst werden konnten. Der Papst hatte somit ein Instrument in der Hand, um in Konfliktsituationen auf die Stellung der Kardinäle Einfluss zu nehmen.
Eine letzte Gruppe von Beiträgen fokussiert Traktate, erzählende und tagebuchmäßige Texte aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Der von Kerstin Hitzbleck behandelte Traktat »De squaloribus curiae Romanae« des Matthäus von Krakau bildet ein aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive wertvolles Beispiel für eine religiös motivierte Kritik an kurialen Praktiken und Verfahren (S. 235–254). Ganz anderer Natur waren die Überlegungen der Humanisten, um die es im Aufsatz von Claudia Märtl geht (S. 255–268): Den Päpsten warfen sie u. a. mangelnde Qualitätsstandards bei der Personalauswahl, Bevorzugung von gewissen Personen und Interessengruppen sowie den unpassenden Stil kurialer Schriftstücke vor. Ein zweiter Aufsatz derselben Verfasserin fasst die sogenannte »Anleitung« in den Blick, einen zwischen 1482 und 1526 in unterschiedlichen Redaktionen überlieferten Ratgeber zu Pfründengeschäften, der größtenteils auf den mit den kurialen Gepflogenheiten bestens vertrauten Prokurator Sigismund Grim zurückgeführt werden kann (S. 335–351).
Den »Liber notarum« des päpstlichen Zeremoniars Johannes Burckard ordnet Isabella Lazzarini an der Schnittstelle zwischen Zeremonien- und Tagebüchern ein und skizziert die Sichtweise des Autors bezüglich der Gründe, die zur Eskalation von Konflikten an der Kurie beitrugen (S. 269–291). Die Perspektive von am Papsthof wirkenden Gesandten kommt auch in den Beiträgen von Gabriele Annas und Duane Henderson zur Geltung, in denen es jeweils um die Berichte der Prokuratoren des Deutschen Ordens und der Beauftragten des mailändischen Herzogs Francesco Sforza geht (S. 293–314, 315–334).
Durchaus positiv fällt die Bewertung des Sammelbandes aus, denn er überzeugt durch die Bandbreite und Qualität der Beiträge, die eine Vielzahl an Informationen und Anregungen zum Themenkomplex stilus curiae liefern. Für eine bessere Orientierung wäre ein Personen- und Ortsregister sicherlich hilfreich gewesen. Auch eine die Ergebnisse der einzelnen Studien bündelnde Gesamtbetrachtung hätte dabei geholfen, Art und Relevanz sowie Kontinuitäten und Brüche geschriebener und ungeschriebener Spielregeln deutlicher herauszustellen. Doch beides – Register und synthetisierende Gesamtbetrachtung – sind wohl für den zweiten Teilband zu erwarten, auf den man gespannt sein darf.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Étienne Doublier, Rezension von/compte rendu de: Jessika Nowak, Georg Strack (Hg./ed.), Stilus – Modus – Usus. Regeln der Konflikt- und Verhandlungsführung am Papsthof des Mittelalters/Rules of Negotiaton and Conflict Resolution at the Papal Court in the Middle Ages, Turnhout (Brepols) 2019, VII–351 p. (Utrecht Studies in Medieval Literacy, 44), ISBN 978-2-503-58507-9, EUR 90,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73236