Für die Erforschung der Reformationszeit in Europa hat die kulturwissenschaftliche Wahrnehmung der Musik bislang keine besonders große Rolle gespielt. Dies ist umso erstaunlicher, als dass die Musik von allen Beteiligten reichlich genutzt wurde. Der vorliegende interdisziplinäre Band von westeuropäischen Forschenden aus den Bereichen Musikwissenschaft, Theologien und Kulturwissenschaften bearbeitet ein Forschungsdesiderat in vorzüglicher Weise und zeigt dabei auf, dass die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der sich voneinander abgrenzenden Parteien sich in musikalischen Fragen an vielen Punkten nicht anhand konfessioneller Grenzen entscheiden lassen. Dies macht der Band anhand vier großer Abteilungen deutlich: 1. »Mittelalterliches Erbe«, 2. »Luthertum in Deutschland«, 3. »Image und Identität«, 4. »Reformation und Gegenreformation in europäischer Perspektive«.
Daniel Trocmé-Latter (Cambridge) eröffnet die Abhandlungen zum mittelalterlichen Erbe, indem er seinen Fokus auf das Musikverständnis der drei Häretiker Jan Hus (1369–1415), John Wycliff (1324–1384) und Girolamo Savonarola (1452–1498) legt und sehr differenziert zeigt, wie Luther und Bucer die musikalischen Äußerungen dieser drei spätmittelalterlichen Gottesdienstkritiker und Reformer für ihre liturgischen Gestaltungsansätze in Wittenberg bzw. Straßburg nutzen, indem sie der Musik als »prayer« eine zentrale Bedeutung für den Gottesdienst zumessen und deren Schriften bis in einzelne musikalische und hymnologische Fragen hinein folgen.
Henk Jan de Jonge (Leiden) skizziert die Geschichte der Sibyllinischen Orakel von der frühen Christenheit bis hin zu der Komposition »Prophetiae Sibyllarum« (1558) durch den zu seiner Zeit berühmtesten Renaissance-Komponisten Orlando die Lasso (1532–1594), der am Hof Albrechts V. von Bayern in München wirkte. Vom Hirt des Hermas über Clemens von Alexandrien, Justin Martyr, Tertullian, Lactantius, Augustin, Isidor, Hrabanus Maurus, Roger Bacon und Thomas von Aquin bis hin in die Renaissance-Theologie werden die Sibyllinischen Orakel als vorchristliche pagane Weissagung der christlichen Wahrheit verstanden und stellen damit für Lassus einen klassischen, traditionellen und orthodoxen Text katholischer Theologie dar, den er mit seiner Vertonung in den Dienst der gegenreformatorischen Maßnahmen Albrechts V. von Bayern stellt.
De Jonge zeigt daneben aber auch, dass der Schweizer Theologe Johannes Jacobus Grynaeus sowie der Heidelberger Professor Johannes Opsopaeus in seiner griechischen und lateinischen Edition der Sibyllinischen Orakel diese aufgrund ihrer Klarheit und Präzision für vaticinia ex eventu und daher nicht sehr alt halten.
Neben der berühmten Vertonung durch Lassus hat es besonders in Frankreich noch weitere, bislang kaum beachtete Vertonungen aus diesem Werk gegeben, von denen Marie-Alexis Colin (Brüssel/Montreal) zwei weitere untersucht: »Dicts sibyllins en personnages« (1515–1531), die Louise von Savoyen gewidmet sind, der Mutter Franz I. von Frankreich; sowie eine Sammlung von drei- und vierstimmigen Gesängen: «Genethliac. Noel musical et historial de la Conception«, »Nativité de nostre Seigneur Jesus Christ« (publiziert 1559 in Lyon). Beide Weihnachtsmusiken lassen sich nicht nur als auf Christus bezogen hören, sondern auch als Huldigungen der jeweils herrschenden Könige Franz I. (1494–1547) sowie Heinrich II. (1519–1559).
Den Abschnitt über das lutherische Deutschland eröffnet Mikka Anttila (Helsinki), der Luthers Theologie der Musik skizziert und dabei die Stichworte Freude (joy), Spaß (pleasure), Einfachheit (simplicitas), Charme (suavitas), Freiheit und Kreativität nennt. Für Luther kann Musik nicht schön genug sein, womit er sich in Opposition zu Augustin begibt. Leider bezieht sich Anttila ausschließlich auf Oskar Söhngens Theologie der Musik von 1967 und nimmt dabei die jüngere deutschsprachige Forschung zu Luthers Musiktheologie (z. B. Gustav A. Krieg, Christoph Krummacher oder Johannes Block) nicht zur Kenntnis, die sich mit Söhngen kritisch auseinandergesetzt hat.
Thomas Schmidt (Huddersfield) untersucht verschiedene Chorbücher der Reformationszeit sowohl aus reformatorischen als auch aus altgläubigen Gebieten und diskutiert die Frage, ob z. B. die Polyfonie etwas typisch Lutherisches sei. Sein Ergebnis ist sehr klar: Anhand ästhetischer oder musikologischer Kriterien lässt sich weder ein lutherischer noch ein katholischer Stil dingfest machen. Die Traditionen, auf die musikalisch in beiden Konfessionen zurückgegriffen wird, sind weitgehend ähnlich, z. B. Josquin Desprez (1455–1521) oder Ludwig Senfl (1490–1543).
Mattias Lundberg (Uppsala) untersucht, ausgehend von Melanchthons »Vos ad se, pueri«, Schullieder in ausgewählten Städten: Wittenberg, Zwickau, Luckau und Västerås. Er zeigt, wie sich hier ein komplettes nicht-liturgisches Bildungsprogramm über Generationen hinweg etabliert, das überall ähnliche Züge hat, gleichwohl aber auch regional spezifisch ist. Dabei waren für viele Kurrenden die Begräbnisgesänge eine wichtige Einnahmequelle für bedürftige Schüler, die dadurch, monastische Traditionen transformierend, zu urbanen Identitätsstiftern wurden.
Alanna Ropchock Tierno (Winchester) zeigt die musikalische Grenzüberschreitung der »Missa Pange lingua« von Josquin Desprez, der ein Fronleichnamstext von Thomas von Aquin zugrunde liegt. Von deren heute erhaltenen 19 Quellenschriften wurden allein 8 im lutherischen Raum überliefert, innerhalb einer Sammlung von 13 vierstimmigen Messen, die u. a. mit einer persönlichen Widmung an Philipp von Hessen (1504–1567) versehen war. Damit macht sie deutlich, dass die Abendmahlstheologie, die bis heute zwischen Katholiken und Protestanten das gemeinsame Mahl verhindert, allerdings schon in der Reformationszeit nicht zu hindern vermochte, christliche Gemeinsamkeiten genau an diesem Punkt musikalisch zur Darstellung zu bringen.
Inga Mai Groote (Zürich) analysiert das theologische Musikverständnis des Rostocker Theologieprofessors David Chytraeus (1530–1600), wie er es erstmals in seinem Deuteronomiumkommentar von 1575 darstellt. Dabei bietet er auch eine Musikgeschichte, die von der Engelsmusik (Jes 6; Apc 15) über das Lied des Mose (Dtn 31), Orpheus, David, Asaph, Salomo, Jesaja, Jeremia, Virgils Iopas, Pindar, Simonides, Maria (Magnificat), Benedictus (Zacharias), Basilius, Ambrosius, John Dunstaple (1390–1453), Guillaume Dufay (1400–1474), Gilles Binchois (1400–1460) bis hin zu Luther, den Böhmischen Brüdern, Josquin, Heinrich Finck (1445–1527), Senfl, Thomas Stoltzer (1480–1526) »et aliqui Germani« (S. 244) reicht.
Der Teil Image und Identität wird eröffnet mit einem Beitrag von David J. Burn (Leuven) und Grantley McDanold (Wien) zum öffentlichen Bild des Passauer Komponisten Leonhard Paminger (1495–1567), der bis zu seinem Lebensende in Diensten des Klosters St. Nikola stand. Zwei seiner Kompositionen widmet er Melanchthon mit kunstvollen Rätseln, mit Luther führt er einen Briefwechsel und bei einer seiner letzten Komposition »Tricinia« (1560) orientiert er sich an Luthers Kleinem Katechismus. Dennoch ist bei ihm bis zum Lebensende nicht klar, ob er Katholik oder Protestant war, was nur möglich ist aufgrund der toleranten Verhältnisse in Passau.
Ähnliche Verhältnisse herrschen auch im bikonfessionellen Frankfurt. Elisabeth Giselbrecht (London) zeigt dies anhand von Nikolaus Stein, der selber der katholischen Minderheit angehörte, aber die wichtigsten Drucke polyfoner geistlicher Musiken in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts publizierte, die sowohl für den lutherischen als auch den katholischen Gebrauch bestimmt waren.
Sarah Davies (New York) beschreibt unter der Frage »Kirchen Cron oder Baalsfeldzeichen?« den Orgelbau zwischen 1560 und 1660 als konfessionellen Identitätsmarker und zeigt dies eindrücklich am Orgelaltar der Stadtkirche von Waltershausen.
Der letzte Teil bietet musikalische Studien zur Reformation und Gegenreformation in Europa. Gioia Filocamo (Parma) beschreibt nachtridentinische Musik in italienischen Nonnenklöstern. Xavier Bisaro (Tours) widmet sich der theologischen Kasuistik angesichts französischer Renaissancemusik, die den neuen Sound mitunter als Sünde brandmarkt. Frank Dobbins (London) zeigt, dass der wichtigste französische Renaissance-Komponist Clément Janequin (1485–1558) als Katholik zugleich auch Texte des Genfer Psalters vertonen konnte. Nils Holger Petersen (Kopenhagen) untersucht das neue Gradual (1573) des dänischen Bischofs Niels Jespersen (1518–1587), das katholische und reformatorische Traditionen miteinander verbindet.
Hyun-Ah Kim (Toronto) geht dem neuplatonischen Einfluss auf die Musica humana der Schweizer Reformatoren nach, insbesondere bei Zwingli und Calvin, während Beat Föllmi (Straßburg) den gewichtigen Straßburger Psalter (1537–1538) untersucht. Die beiden letzten Beiträge befassen sich mit der englischen Reformation. Andrew Cichy (Brisbane) fragt nach der Rolle der Musik in katholischen Priesterseminaren in England zwischen 1580 und 1620, die auch für die Missionsgeschichte bedeutsam sind, während Peter Malisse (Roeselare) die musikhistorische Rezeption der Reformation Heinrichs VIII. als goldenes Zeitalter der Musik im (post-)viktorianischen England untersucht, die die musikalische Opposition zwischen High und Low Church mitbestimmt.
Der Band versammelt eine Vielzahl von neuen Forschungsfragen und -ergebnissen und macht dabei deutlich, dass sich hier sowohl theologische als auch musikalische Fragen derart gegenseitig durchdringen, dass sie nur vor einem solch weiten kulturwissenschaftlichen Horizont angemessen zu verstehen und zu bearbeiten sind. Hier hat die theologische Reformationsforschung immer noch Nachholbedarf.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Harald Schroeter-Wittke, Rezension von/compte rendu de: David J. Burn, Grantley R. McDonald, Joseph Verheyden, Peter De Mey (ed.), Music and Theology in the European Reformations, Turnhout (Brepols) 2019, 500 p., 33 b/w fig. (Épitome musical), ISBN 978-2-503-58226-9, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73289