Die durch den Kanzler Maupeou für Ludwig XV. gegen die unabhängigen Gerichtshöfe, die parlements, 1771–1774 durchgesetzte Reform des Justizwesens fand in Voltaire einen publizistischen Unterstützer. Damit spielte der Dichter in hohem Alter eine direkte Rolle für die Reformen des Ancien Régime, deren Durchsetzung zu einer Politisierung der öffentlichen Meinung führte, die für die veränderte Stimmung am Vorabend der Französischen Revolution bezeichnend war.
Voltaires Motive waren, wie so oft, vielschichtig. Zu betonen ist die Verbindungslinie zu seiner Verteidigung von Opfern der Justiz, wie sie mit den Namen Calas, Sirven und des Chevalier de la Barre aufgerufen sind1. Wie schon in diesen Fällen darf die Schärfe der publizistischen Polemik, seine Kunst Pamphlete zu schreiben, sein ironischer und geistreicher Stil auch in den Beiträgen zur Auseinandersetzung um die Justizreform von Maupeou, die im Zentrum der Darstellung stehen, bewundert werden.
Ein Verdienst der Arbeit von Vincent Cossarutto ist es, eine tiefgehende Analyse der elf zur Unterstützung der königlichen Politik geschriebenen Pamphlete vorgenommen zu haben. Die Verbindung von aktuellen und historischen Argumenten durch Voltaire, der Rückgriff auf seine »Histoire du Parlement de Paris« (1769) und die dort vorgetragenen Überlegungen sind es, die der zugespitzten Darstellung einen besonderen Charakter verleihen. Das für den Patriarchen aus Ferney bekannte Spiel von Verhüllung und Aufdeckung, Anonymität und Andeutungen, Vereinfachung und Zuspitzung, das Wechselspiel zwischen Mitteilungen an seine Korrespondenten, Dementis und differenzierter Publikationsstrategie, wird vom Verfasser detailliert und erhellend nachvollzogen.
Die Voltaire-Korrespondenz gehört daher neben den Pamphleten und den historischen Werken des Dichters zu den zentralen Quellen für diese Analyse. Neben zeitgenössischen Chroniken, wie denjenigen von Bachaumont, Pidansat de Mairobert oder dem »Journal« des Buchhändlers Hardy, gestattet die präzise Rekonstruktion der Abläufe eine genauere Datierung der Arbeit an den einzelnen Beiträgen Voltaires und ihrer Publikationsumstände.
Es wird schnell klar, dass der Kanzler Maupeou in Voltaire nicht nur eine »spitze Feder« in Dienst nehmen konnte, sondern gleichzeitig auch den nicht zu unterschätzenden Effekt einer weitverzweigten Korrespondenz für die Interessen des Königs gegen die noblesse de robe, den Amtsadel, für sich nutzen konnte.
Die Analyse umfasst zwei Phasen von Voltaires Engagement für die königliche Justizreform und die Einschränkung der Macht des Parlement de Paris. Die intensive Phase des Konflikts um das Exil des Parlement (Januar–April 1771) und das Reformedikt vom 23. Februar mit sieben Texten und die Polemik nach der Einsetzung eines neuen, verkleinerten Pariser Parlement (13. April) mit vier Pamphleten (April 1771–Februar 1772). Die Verbreitung der Texte ist Gegenstand einer abschließenden Betrachtung.
Den Auftakt bildet der frühe »Avis d’un gentilhomme à toute la noblesse du Royaume«, der anlässlich des Konflikts um den Duc d’Aiguillon in dreizehn Artikeln die Autorität des Königs gegen Widerspruch des Parlement verteidigt und in wesentlichen Punkten die Gründe für die Justizreform des Kanzlers Maupeou vorwegnimmt. Dieser zirkulierte handschriftlich mit dem Brief Voltaires an den königlichen Zensor François Marin (vom 27.1.1771), bevor er in der zweiten Februarhälfte bereits gedruckt verbreitet wurde.
Es folgen weitere ebenfalls anonyme Flugschriften, die unterschiedlichste literarische Formen annehmen. Als wichtigster Text der ersten Phase werden die »Remontrances du Grenier à Sel« (April 1771)2 angesehen. Sie konzentrieren sich als Parodie oder »Anti-Remontrances« auf die zahlreichen Kritiken bzw. Vorhaltungen der parlements an der königlichen Politik und sind damit Ausdruck der Kritik Voltaires an den politischen Ambitionen dieser Gerichtshöfe zulasten der Monarchie. (S. 125–149). Vincent Cossarutto erkennt hier eine Fortsetzung der Auseinandersetzung Voltaires mit dem »constitutionnalisme parlementaire« wie er als Ergebnis einer älteren Tradition zentral von Le Paige vertreten wird.
Indem Voltaire den parlements aber jegliche politische Bedeutung abspricht und sie auf Organe der königlichen Rechtsprechung reduzieren will, sieht er von der Bedeutung ihres »droit d’enregistrement et de remontrance« in Bezug auf die Gesetzgebung ab, das für die Gegner ein klarer Hinweis auf ihre Funktion als »intermédiaires« zwischen Königtum und Volk angesehen wird. Malesherbes war in seiner Stellungnahme als Präsident des Finanzgerichtshofs (cour des aides) sogar so weit gegangen, die Frage nach der Souveränität zu stellen und in der Krise die Einberufung der Generalstände anzumahnen, was Voltaire in seiner Reaktion, der »Réponse aux remontrances de la cour des aides, par un membre des nouveaux conseils souverains« keineswegs ernst genommen hat, da er sich auf die Wohltaten (Dezentralisierung, Abschaffung des Ämterkaufs, unentgeltliche Rechtsprechung) der königlichen Justizreform konzentrierte. (Anlass für eine späte briefliche »Aussprache« beider nach Rücknahme der Reformen durch Ludwig XVI. im Jahre 1774, S. 306–310.)
Als zweite Phase betrachtet Vincent Cossarutto die nachlassende Produktion Voltaires in dieser Angelegenheit zwischen April/Mai 1771 und dem Jahresbeginn 1772. Hier ist eine deutliche Akzentverschiebung erkennbar. Neben der weiter präsenten Verteidigung der königlichen Verantwortung für die Einrichtung der Justiz und dem Lob für die Reform der parlements tritt stärker die Mahnung zur Fortsetzung der Reform auf der Ebene der Strafprozessordnung (u. a. Abschaffung der Folter) und der Vereinheitlichung und »vernünftigen« Vereinfachung der Gesetze in ganz Frankreich. Dazu argumentiert er immer wieder mit den »blutigen« Justizskandalen der 1760er Jahre (namentlich im Pamphlet »Les Peuples aux parlements«), zögert aber auch nicht, die Verurteilung des Juristen Anne Du Bourg (1559) wegen Ketzerei (»Le Discours du conseiller Anne Du Bourg«), als Beispiel für einen politisch-religiös beeinflussten richterlichen Machtmissbrauch anzuklagen. Als Schlusspunkt betrachtet Vincent Cossarutto Voltaires Heldenode »A M. le Chancelier Maupeou« von 1772.
Der Beitrag der Pamphlete für und wider die »révolution« des Kanzlers Maupeou zur Herausbildung einer »politischen« Diskussionsebene erschließt sich erst durch die Rekonstruktion ihrer Verbreitung. Vincent Cossarutto zufolge (gestützt auch auf die Arbeiten von Bernard Gagnebin und Olivier Ferret) wurden diese Voltaire-Texte mehrheitlich in Genf (Cramer) und Lyon gedruckt, in Paris nachgedruckt und über private Korrespondenzkanäle, sowie durch den Apparat von Maupeou – ggf. korrigiert3 – in Paris und ganz Frankreich verbreitet.
Diese von oben gelenkte, preiswerte Verbreitung anonymer Texte durch die auch für die Zensur zuständige königliche Behörde habe allerdings keineswegs zu ihrer Wertschätzung beigetragen, ganz im Kontrast zu den gesuchten Gegenschriften. Insofern Voltaires Mitwirkung erkannt war, wurde sie polemisch diskutiert. Für den Wirkungszusammenhang wesentlich sind die intertextuellen Wiederaufnahmen der Argumente und Sprachbilder Voltaires in seinen historischen und literarischen Schriften. Zentrale Beispiele sind der Artikel »Parlements« in den »Questions sur l’Encyclopédie« und natürlich die erweiterte Fassung von Voltaires »Histoire du Parlement de Paris« (1773).
»Voltaire au service du roi« erhellt nicht nur wichtige Aspekte der politisch-publizistischen Auseinandersetzungen um die monarchische Justizreform der Jahre 1771–1774, diese Studie macht den engen Arbeits- und Wirkungszusammenhang von Voltaires Korrespondenz, seinen Werken und den hier zentral untersuchten anonymen Flugschriften vor dem Hintergrund seiner »aufklärerischen« Überzeugungen deutlich.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jens Häseler, Rezension von/compte rendu de: Vincent Cossarutto, Voltaire au service du roi. Un pamphlétaire politique au temps de la »révolution« Maupeou. 1770–1775, Besançon (Presses universitaires de Franche-Comté) 2019, 359 p. (Annales littéraires de l’université de Franche-Comté, 997), ISBN 978-2-84867-647-0, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73291