Die Frage nach der Position, die Voltaire in der »Encyclopédie« einnimmt, steht im Mittelpunkt der Studie »Voltaire dans l’Encyclopédie« – nicht zu verwechseln mit »Voltaire et l’Encyclopédie« (1938) von Raymond Naves, der u. a. das vielfältige Engagement Voltaires für den »Dictionnaire raisonné« erforschte, insbesondere Voltaires kritische Begleitung der fortschreitenden, durch die Zensur stets gefährdeten Arbeit der Encyclopédisten und die Bedeutung der »Encyclopédie«-Artikel Voltaires für sein eigenes Werk beleuchtete. Naves vertritt die These, die »Encyclopédie« stelle zwar den Ausgangspunkt für Voltaires »militante« Alphabete1 dar, die er im Kampf gegen Vorurteil, Intoleranz und Fanatismus publikumswirksam eingesetzt habe, doch seine »Encyclopédie«-Artikel seien in erster Linie als integraler Bestandteil seines Œuvres zu betrachten.

Insgesamt 45 »Encyclopédie«-Artikel hat Voltaire verfasst und diese unverzüglich in sein Werk integriert: einzelne in seine »Vermischte[n] Schriften«, in den »Dictionnaire philosophique portatif« (1764) und die »Questions sur l’Encyclopédie« (1770/1772). Unbestritten gilt, dass Voltaire in den 1750er Jahren einer der wichtigsten Unterstützer des »Encyclopédie«-Projekts war, das er als »le plus grand et le plus beau monument« der französischen Literatur lobte2.

Olivier Ferret geht von Naves’ Forschungsergebnissen aus3, unternimmt jedoch einen entscheidenden Blickwechsel: Sein Erkenntnisinteresse gilt der Relevanz Voltaires als Dichter, Geschichtsschreiber, Philosoph und Aufklärer in der »Encyclopédie«, d. h. innerhalb des Ensembles der 74 000 Artikel (17 Foliobände)4. »Voltaire dans l’Encyclopédie« nimmt die Gesamtstruktur in den Blick, aber auch die Wirkung des ‚Monuments der Aufklärung‘, das von 1751 bis 1765 erschien. Einleitend hebt Oliver Ferret hervor, dass seine im ersten Schritt quantitativ angelegte Analyse der Präsenz Voltaires in der »Encyclopédie« erst mithilfe der elektronischen Recherchemöglichkeiten der digitalen »Encyclopédie«-Editionen realisierbar geworden sei, vor allem die systematische Erfassung sämtlicher Erwähnungen Voltaires und seiner Texte (Zitate, Zusammenfassungen, Paraphrasen mit oder ohne Quellenangabe) sowie die Verweise auf Voltaires eigene »Encyclopédie«-Artikel in den Artikeln anderer Autoren. Neben der kritischen Erörterung der Vor- und Nachteile der unterschiedlich angelegten digitalen Editionen5 bietet Ferret einen Einblick in den Stand der Forschung zu den digitalen »Encyclopédie«-Editionen.

Ferrets Studie besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden die elektronisch eruierten Befunde vorgestellt und »qualitativ« ausgewertet, d. h. im Kontext des jeweiligen Artikels, der sich auf Voltaire bezieht. Weniger überraschend sind die Belege der Erwähnung Voltaires in den »Avertissements« der beiden Herausgeber: Diderot und D’Alembert erwähnen Voltaire mit Bewunderung, Dankbarkeit, Stolz, um zu signalisieren, dass »M. de Voltaire« der »Encyclopédie« seine Unterstützung zukommen lasse, indem er hervorragende Artikel beisteuere. Dabei hatte, so Ferret, die überaus respektvolle Erwähnung des »M. de Voltaire« die Funktion, die Seriosität des enzyklopädischen Unternehmens zu legitimieren; und Voltaires Berühmtheit werde strategisch genutzt, um mit seinem Namen Werbung für das Großprojekt zu machen.

Aufschlussreich sind die zahllosen superlativischen Umschreibungen des Namens Voltaires in den Artikeln anderer Autoren in den ersten sieben Bänden (1751–1757): »illustre écrivain«, »auteur célèbre«, »un de nos plus grands poètes« etc. Sie schrieben, wie Ferret hervorhebt, der »Encyclopédie« das öffentliche Image Voltaires als »grand maître« der modernen Literatur und Geschichtsschreibung ein, während Voltaires starke Präsenz als »philosophe« sich erst in den Bänden 8–17 (1765) herauskristallisierte.

Ferret kann mittels der elektronischen Recherchemöglichkeiten en détail nachweisen, in welchen »Encyclopédie«-Artikeln Voltaires Werke in welcher Weise (zustimmend, ablehnend) und von wem (aus welcher Voltaire-Edition) aufgerufen werden. Die als bekannt vorausgesetzten Tragödien, Lehrgedichte, Geschichtswerke werden oft ohne Voltaires Namen oder ohne Angabe des Werktitels zitiert. Oliver Ferret hat mehr als 300 »Encyclopédie«-Artikel, die auf Voltaire bzw. seine Werke Bezug nehmen, identifiziert und analysiert. Angesichts der weit mehr als 74 000 Artikel sei dies, wie er bescheiden anmerkt, eine eher kleine Anzahl.

Doch seine subtile Analyse einiger trefflich ausgewählter, besonders aufschlussreicher Artikel führt die Bedeutung vor Augen, die diesen Belegen für die dramatische Entstehungs- und Publikationsgeschichte des »Dictionnaire raisonné« zukommt. Die Profilierung Voltaires als Dichter und Geschichtsschreiber, der um 1750 europaweit berühmt war6, in den ersten Bänden der »Encyclopédie« (1751–1757) interpretiert Ferret als eine Vorsichtsmaßnahme der Herausgeber, mit der Voltaire auf Dauer nicht mehr zufrieden war. Er verstand sich seit den frühen 1760er Jahren als »homme de lettres« bzw. »philosophe«. Doch in dieser Rolle konnte er – vor allen mit seiner radikalen Kritik am theologischen Weltbild – dem »Encyclopédie«-Projekt, das schnell zur Zielscheibe klerikaler Angriffe geworden war, gefährlich werden, es zum Scheitern bringen.

Wie brisant die Erwähnung Voltaires als »philosophe« offensichtlich war, vermittelt sich bereits im 1. Band (1751), wie Ferrets brillante Lesart des Artikels »Ame« zeigt: Ohne Voltaire und seine »Lettres philosophiques« je zu nennen, setzt sich der Artikel »Ame« mit »un des ouvrages« eines »célèbre Ecrivain« kritisch auseinander, nämlich mit der »Lettre sur M. Locke« – dem kühnsten Brief der »Lettres philosophiques«, in dem Voltaire das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele als grandiosen Irrtum ad absurdum führt7.

Im zweiten Teil analysiert Ferret die Arbeitsweise des Chevalier de Jaucourt, der mehr als 17 000 »Encyclopédie«-Artikel verfasste (Diderot widmete seinem seit D’Alemberts Ausscheiden wichtigsten Mitstreiter im »Avertissement« des 8. Bandes (1765) eine Hommage). Gut zwei Drittel aller Bezugnahmen auf Voltaire und dessen Œuvre, verteilt auf alle Bände der »Encyclopédie«, finden sich in Jaucourts Artikeln, insbesondere zu den Themen Geschichte, Geografie, Biografik, Politik und Gesellschaft. Dabei erweist sich Jaucourt als unermüdlicher Voltaire-Leser und Multiplikator des Voltaire’schen Denkens.

Dennoch verbreitete sich das Klischee vom uninspirierten Vielschreiber, konturlosen Abschreiber, langweiligen Kompilator. Doch damit macht Olivier Ferret auf überzeugende Weise Schluss: Seine detaillierte Analyse der von Jaucourt verfassten Artikel, in denen die Voltaire-Bezüge für die Argumentation prägend sind, machen klar, dass Jaucourt als kritischer Geist die Position eines Humanisten, protestantischen Aufklärers und politischen Reformers vertritt. Voltaire gilt ihm als Autorität, auf die er sich hinsichtlich der Säkularisierung des Denkens und des enzyklopädischen Engagements gegen Fanatismus beruft.

Ferret kann auch nachweisen, dass Jaucourt (sozial-)politisch fortschrittlicher und absolutismuskritischer denkt als Voltaire. Besonders anschaulich belegt er diese These anhand der politisch brisanten Artikel Jaucourts, in denen er Voltaires Positionen sogar zuspitzt (»Despotisme«, »Esclavage«, »Fanatisme«, »Inquisition«) oder, statt Voltaire, Montesquieu zitiert, der diesbezüglich radikaler formuliert. Doch letztlich, so Olivier Ferret, war es Jaucourt, der Voltaire als »philosophe« (auch »historien-philosophe«) in der »Encyclopédie« etablierte (Bd. 8–17) und so dem öffentlichen, seit den 1760er Jahren profilierten Selbstporträt Voltaires als »homme de lettres« und Intellektuellem avant la lettre gerecht wurde.

Zweifellos wäre die Vollendung der »Encyclopédie« nach dem Rückzug D’Alemberts (anlässlich des Streits mit Rousseau um den Artikel »Genf« [Bd. 7, 1757], an dem Voltaire beratend beteiligt war) und des Verbots der »Encyclopédie« (1759) ohne die phänomenale Mitarbeit Jaucourts kaum gelungen.8

Im dritten Teil wird die Bedeutung der von Voltaire verfassten »Encyclopédie«-Artikel für das Gesamtprojekt beleuchtet, die aus seiner Sicht »wichtige Bausteine« für »le grand édifice« darstellen. Diese zwischen 1755 und 1760 entstandenen Artikel (in den Bänden 5–8) behandeln die Themen Sprache, Literatur, Geschichte, Moralphilosophie, die meistens von D’Alembert erbeten worden waren. Artikel zu Fragen der Theologie und Religion aus der allzu spitzen Feder Voltaires vermieden die Herausgeber vorsichtshalber, was Voltaire nicht davon abhielt, in seine auf den ersten Blick ‚unproblematischen‘ Artikel kritische Anmerkungen zur christlichen Orthodoxie hinein zu schmuggeln (die von der Zensur offensichtlich nicht getilgt wurden).

Die großen, für Voltaire besonders wichtigen Artikel »Histoire«, »Idole, Idolâtre, Idolâtrie«, »Imagination« (alle Bd. 8, 1765) erschließt Olivier Ferret auf beeindruckende Weise innerhalb des Verweissystems, so dass die der »Encyclopédie« absichtsvoll eingeschriebene »Handschrift« Voltaires gut ersichtlich wird. Insgesamt bewertet Ferret Voltaires Beitrag zur »Encyclopédie« als Beginn der aufklärungsphilosophischen »Praxis« Voltaires, die darin bestehe, dem »monument des Lumières« eine skeptische Epistemologie und ein ebenso kritisches wie nützliches Denken einzuschreiben, das den »Dictionnaire raisonné« von allen anderen Wörterbüchern unterscheidet – insbesondere von dem aus Voltaires Sicht obsolet gewordenen »Dictionnaire de Trévoux« der Jesuiten.

Ferrets sorgfältige Analyse der elektronisch eruierten, literaturwissenschaftlich interpretierten Belege und anregende Relektüre der »Encyclopédie« bietet eine Vielfalt überzeugender Ergebnisse. Hervorgehoben sei auch der sachdienliche Anhang (S. 343–410) mit einer umfangreichen Bibliografie, mehreren Registern, drei wichtigen Verzeichnissen: U. a. werden alle »Encyclopédie«-Artikel, die Voltaire bzw. seine Werke erwähnen, alphabetisch verzeichnet, ergänzt durch den Namen des Verfassers, den Band, das Erscheinungsjahr und die bibliografischen Angaben der Voltaire-Zitate in der »Encyclopédie«.

1 Raymond Naves, Voltaire et l’Encyclopédie, Paris 1938, S. 96.
2 Voltaire an D’Alembert (9. Dez. 1755, D6619).
3 Mehrfach hat sich Oliver Ferret (Université Lumière Lyon 2) mit den Voltaire-Forschungen Raymond Naves’ (* 1902 in Paris; † 1944 in Auschwitz) beschäftigt; er besorgte u. a. eine Neuausgabe des von Naves herausgegebenen »Dictionnaire philosophique« (mit einem Vorwort von René Étiemble, Paris 2008).
4 Die ersten sieben Bände der »Encyclopédie« erschienen jährlich (1751–1757), die folgenden zehn Bände konnten – nach einer achtjährigen Unterbrechung aufgrund der Widerrufung der Druckerlaubnis (März 1759) – erst im Dezember 1765 erscheinen. Die elf Bände Kupferstiche (1762–1772), fünf Supplementbände (1776–1777), zwei Bände Register (1780) werden in Olivier Ferrets Studie nicht berücksichtigt.
5 CD-Rom: »L’Encyclopédie de Diderot et d’Alembert ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers«, Marsanne, Redon 2000; Robert Morrissey (éd.), ARTFL Encyclopédie Project (Cooperation CNRS/University of Chicago), novembre 2008: http://encyclopedie.uchicago.edu sowie die im Aufbau befindliche »Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie« (ENCCRE): http://enccre.academie-sciences.fr.
6 1746 wurde Voltaire Mitglied der Académie française; von 1745 bis 1750 war er königlicher Historiograf; von 1750 bis 1753 hielt er sich als Kammerherr Friedrich II. in Potsdam auf, wo er »Le Siècle de Louis XIV« vollendete, das 1751 bei C. F. Henning in Berlin erschien und ein großer Verkaufserfolg war; die 2. Aufl. 1752 erschien bei Georg Conrad Walther in Dresden (im Original, wenig später in deutscher Übersetzung). Auch am »Essai sur les mœurs et l’esprit des nations« arbeitete Voltaire in Potsdam; die erste vollständige Ausgabe kam 1756 bei Cramer in Genf heraus.
7 Im 13. Brief, »Sur M. Locke«, findet sich der berühmte Satz, der Anlass war für das Verbot des Buches, das 1734 öffentlich verbrannt wurde, auf den Index kam und Voltaire einen geheimen Haftbefehl einbrachte: »toutes nos idées viennent par les sens«, in: René Pomeau (éd.), Voltaire, »Lettres philosophiques«, Paris 1964, p. 84.
8 In der digitalen Ausgabe »ENCCRE«, http://enccre.academie-sciences.fr, wird Jaucourt als Mitherausgeber der »Encyclopédie« genannt: »Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie de Diderot, de D’Alembert et de Jaucourt (1751–1772)«. Der Sammelband Gilles Barroux, François Pépin (éd.),»Le chevalier de Jaucourt. L’Homme aux dix-sept mille articles«, Paris 2015, entwirft ein facettenreiches Porträt des Aufklärers Louis de Jaucourt (1704–1779), der protestantische Theologie (Genf), Medizin (Leiden), Mathematik und Physik (Cambridge) studiert hatte. Zahlreiche »Encyclopédie«-Artikel Jaucourts fielen der Zensur zum Opfer, u. a. sein Artikel zur »Religion protestante«.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Brunhilde Wehinger, Rezension von/compte rendu de: Olivier Ferret, Voltaire dans l’Encyclopédie, Paris (Société Diderot) 2016, 416 p. (L’Atelier autour de Diderot et de l’»Encyclopédie«), ISBN 978-2-9543871-0-9, EUR 34,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73294