In doppelter Hinsicht bildet dieses Buch eine Summe: langjähriger Studien der Verfasserin, deren deutsche Ausgabe von »Revisiting Prussia’s Wars against Napoleon« (2015) nun die »Erinnerungsproduktion« eingehender betrachtet, wie wesentlicher Tendenzen der Nationalismusforschung, die Meistererzählungen dekonstruiert, der Rezeptionsanalyse, die erinnerungspolitische Aushandlungsprozesse untersucht, der Geschlechtergeschichte, die Rollenzuweisungen an Frauen wie Männer analysiert, der Kulturgeschichte, die neben Texten auch Praktiken liest: hier Siegesfeste, Ordensverleihungen und Jubiläumsfeiern. Wie aus der Vielfalt national, regional und lokal angelegter Erinnerungen bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs ein dominierendes Narrativ borussischer »Befreiungskriege« hervorging, macht die Verfasserin anschaulich nachvollziehbar.
Darin scheint die These des aufschlussreichen Buches zu bestehen, an dessen Ende wohl genau deshalb statt eines Fazits ein Epilog steht; er schließt den Argumentationskreis, den der Prolog eröffnet hat, mit dem Exempel der rasch nachlassenden Popularität des Malers Georg Friedrich Kersting. Verpflichtet ist die Untersuchung »kontroversen Diskursen und symbolischen Praktiken der Erinnerung, mit denen Individuen und Gruppen politische Forderungen im weitesten Sinn ausdrückten« (S. 7f.).
Um konkurrierende Erzählungen zu erfassen, postuliert die Einleitung eine »multiperspektivische Analyse der umstrittenen Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses der Kriege von 1806 bis 1815, die während der Kriege selbst begann« (S. 24) – wiewohl Patriotismus und Nationalismus auch aufklärerische Vorgeschichten hatten. Doch die Verfasserin konzentriert sich auf die Erinnerungsproduktion: unter wechselnden politischen Bedingungen, unter den Umständen des Literaturbetriebs und innerhalb damaliger Geschlechterdifferenzen. Dazu passen ihre gedruckten Quellen: von reichweitenstarken Jahrbüchern bis zu Regionalzeitungen, von hoher Literatur bis zum Moderoman, von prominenten Generalsmemoiren bis zu Denkwürdigkeiten von Zivilistinnen. In Verlagsarchiven wäre mehr zur Kommerzialisierung auffindbar, doch solche Befunde hätten den Rahmen der Darstellung womöglich gesprengt.
Deren erstes von vier großen Kapiteln setzt sich mit Erfahrungen auseinander, die neu zu Erinnerungen zusammengesetzt wurden. Es fasst wesentliche Geschehnisse der Jahre 1806 bis 1815 konzise und konkret zusammen, gegensätzliche Erlebnisse hervorhebend: etwa begeisterte Freiwillige und widerwillige Wehrdienstleistende, Siegestaumel und Leiden der Leipziger Zivilbevölkerung. Unterschiedliche Interessen werden deutlich, auch spezifische Strukturen der Erinnerungsräume; neue Feste kamen ebenso auf wie neue Texte, die zum »wichtigen Ort der emotionalen Bearbeitung der Kriegserfahrungen und der Artikulation von Kriegserinnerungen für unterschiedliche Bevölkerungskreise« wurden (S. 112).
Daraus resultierende Praktiken schildert der zweite Buchteil. Er wendet sich zunächst Feiern und Ritualen zu, die rund um die Idee eines »Nationalfestes« (1814) entstanden. Gerade in Einheitsdemonstrationen wurden Machtansprüche vorgetragen, auch der Geschlechter, wie das Untersagen eigenmächtigen Fahnenstickens von Frauen belegt, denen in der idealisierten »Volksfamilie« meist ein Platz am Herd zugewiesen wurde. So sehr sich die Abläufe vieler lokaler Feste glichen, so differenziert zeigt sich ihre Ausrichtung: Wer das Militär feierte, konnte damit den Monarchen meinen oder aber Landwehr und Freiwillige, die Linie ausklammernd.
Ähnliche Kontroversen spiegelt die Rezeption der Völkerschlacht wider. Insbesondere Turner und Burschenschaften (Wartburgfest) wichen von landespatriotischen Vorgaben ab; zwar verdrängte nach der Reichsgründung eine völkische die liberale Lesart, doch noch das Treffen auf dem Hohen Meißner war gegen die Eröffnung des Völkerschlachtdenkmals inszeniert. Ähnliche Überlagerungen zeigen sich beim Eisernen Kreuz, dessen Verleihung öffentlich zelebriert wurde; monarchische, nationale, demokratische. Als es im Deutsch-Französischen Krieg als Einheitssymbol erneuert wurde, empfanden es manche Ordensempfänger als derart preußisch, dass sie es hinter bundesstaatlichen Abzeichen anhefteten. Solch signifikante Beispiele zeigen die kontroverse Vielfalt der Erinnerung; erst am Ende des 19. Jahrhunderts dominierte eine nationale und militärische Deutung.
Im dritten Kapitel geht es um Texte als Erinnerungsträger – und um deren Entstehungsbedingungen auf einem teils von scharfer Zensur regulierten Buchmarkt, der ein nationales Lesepublikum schuf und doch einem lokalen verpflichtet blieb. Schriften zur Napoleonischen Zeit boomten, großdeutsche wie bundesstaatliche Erzählungen. Diese Konjunktur ließ in den 1820ern nach, um in den 1850ern erneut anzuziehen. Staatsmänner statt das Volk zu würdigen, blieb nicht einmal in borussischer Hochzeit unwidersprochen, wie anhand von Hans Delbrück aufgezeigt; ohnehin ist die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft einbezogen, deren Werke zugleich Konkurrenz wie Voraussetzung anderer Werke darstellte.
In der Analyse von 369 Schriften zeigen sich unterschiedliche Modi der Erinnerung: bei Militärs, unter denen wiederum diejenigen aus den Rheinbundstaaten besonders landespatriotisch angelegt waren, bei Freiwilligen, die regierungskritisch den »Volkskrieg« priesen, aber auch bei Zivilisten, die den Arndt’schen Nationalismus je nach Lage der Umstände herauf- oder herunterschrieben, und bei Frauen, deren Publikationen heftige Kritik hervorriefen. So ergeben sich »eindeutige Trends der Erinnerungsproduktion« (S. 292), die vor allem zeigen, wie ein preußisch-kleindeutsches Konsensnarrativ konkurrierende Erzählungen verdrängte.
Den zahlreichen historischen Romanen, die um die Gunst eines wachsenden Lesepublikums rivalisierten, gilt der vierte Buchabschnitt – gerade Texten, deren literarischen Wert schon Zeitgenossen diskutierten. Die meisten erschienen in Auflagen von bis zu 1200 Stück, der Anteil der Autorinnen lag höher als in anderen Genres. So stereotyp die Bücher oft angelegt waren, so wiesen ihre Aussagen auseinander: auch kritische, indem sie in der Restauration die schwierige Wiedereingliederung der Kriegshelden beschrieben, indem sie im Vormärz an alte Freiheitsversprechen erinnerten, indem sie unter Auspizien des literarischen Realismus die Grenzen der Nation verhandelten oder im Kaiserreich – so bei Fontane – übertriebenen Nationalismus tadelten. »Breite und Vielfalt« (S. 363) lautet das Resümee dieses Kapitels, das den Streit um das kollektive Gedächtnis und diskursive Verschiebungen bündig zusammenfasst.
So ergibt sich ein eindrückliches Panorama. Erklärungen des gründlich untersuchten Wandels könnten noch von österreichischen Quellen profitieren: Wer mit »deutscher« Nation was meinte, verdient ebenso Betrachtung wie kommerzielle Aspekte1. Gerade weil der Epilog sich dem Werden einer »europäischen Erinnerungslandschaft« (S. 380) zuwendet, lohnte der Vergleich mit hier ebenfalls nicht konsultierten Studien2. Auch dafür schafft die nun vorliegende Summe eine gute Basis, in der Sache wie in der Methode: als perspektivenreiche Analyse von Erinnerungskonstruktionen, die politische, Geschlechter- sowie andere Differenzen berücksichtigt und auch diejenigen zu Wort kommen lässt, die den Streit um die Deutungshoheit verloren haben.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Georg Eckert, Rezension von/compte rendu de: Karen Hagemann, Umkämpftes Gedächtnis. Die Antinapoleonischen Kriege in der deutschen Erinnerung, Paderborn (Ferdinand Schöningh) 2019, XVI–427 S., 3 farb. Abb. (Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der Europäischen Erinnerung), ISBN 978-3-506-70748-2, EUR 99,00., in: Francia-Recensio 2020/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73297