Der Sammelband basiert auf einer Tagung, die im März 2016 am DHI Paris stattfand und die sich zum Ziel gesetzt hatte, »Schriftlosigkeit als epistemische Herausforderung für die Erforschung der Vergangenheit« (Vorwort) zu thematisieren. Er beinhaltet Beiträge von französischen, deutschen, englischen, amerikanischen und italienischen Kolleginnen und Kollegen aus den Geschichtswissenschaften, der Archäologie, der Ethnologie und der Kulturwissenschaften/Volkskunde.

Der Band ist als Beitrag zur Auseinandersetzung um die etablierte Definition der Geschichtswissenschaften als einer auf Schriftquellen basierten Disziplin zu verstehen. Im Kern geht es um die Auseinandersetzung, Bewertung und Analyse von Quellenarten jenseits von Schriftquellen mit ihren spezifischen Informationspotenzialen: Naturfakte und Artefakte, Sprache, Bildwerke, Pflanzen, Fossilien, Knochen sowie der Mensch selbst mit seinen Dialekten, Liedern, Bräuchen und Erzählungen. Was kann, was darf, was muss aus der Sicht der Geschichtswissenschaften als Quelle, die dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit standhält, gelten?

Die Einleitung der Herausgeberin (Philosophie/Geschichte) situiert die Ausgrenzung der nichtschriftlichen Quellen und der mit ihnen verbundenen räumlichen wie zeitlichen Gegenstandsbereiche einerseits in einem Diskurs zwischen Philosophie und Historiografie um Fragen der Glaubwürdigkeit und Aussagekraft von Quellen in Bezug auf die Ableitung kausaler Zusammenhänge in der Frühen Neuzeit, andererseits in der Ausdifferenzierung der im Band vertretenen Disziplinen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Daran schließt ein erster Abschnitt an, der sich mit einer »historiografischen Perspektive« auf den Umgang mit Schriftlosigkeit in der Geschichtsschreibung an verschiedenen Beispielen befasst.

Antonella Romano betrachtet die wechselnde Bewertung von Schriftlosigkeit in Berichten von katholischen Missionaren des 16. Jahrhunderts, die einerseits eine Vergangenheit von Kulturen ohne Schrift akzeptierten, die jedoch andererseits Schriftlosigkeit mit Barbarei gleichsetzten. In einem eigenen Beitrag widmet sich die Herausgeberin der »Keltomanie« einer Gruppe von Privatgelehrten in Paris, die sich im frühen 19. Jahrhundert auf der Suche nach den Überresten einer keltischen Vergangenheit der Sprache und Bräuche der Bauern zuwandten und in der Volkskultur einen authentischen Zugang zur keltischen Vergangenheit vermuteten.

Nicole Immig zeigt am Beispiel des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs zwischen 1919 und 1923 die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der Vergangenheit von Bevölkerungsgruppen, deren Schriftlosigkeit durch Zwangsmigration hergestellt wurde. Bettina Severin-Barboutie berichtet über einen aktuellen Historikerstreit um die »eigentliche« Vergangenheit der französischen Insel La Réunion vor der Besetzung durch die Franzosen im 17. Jahrhundert. Beide Autoren nutzen die gleichen nichtschriftlichen Quellen und Beweise, deuten diese jedoch verschieden und gelangen so zu zwei miteinander konkurrierenden Versionen der eigenen Besiedlungsgeschichte.

Der zweite Abschnitt ist wissenschaftshistorischen Perspektiven gewidmet. In allen vier Beiträgen schwingt die Rolle der Hinwendung zu (oder Abkehr von) spezifischen Quellenarten in der Ausdifferenzierung des akademischen Fächerkanons des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit. Stefan Jordan betrachtet die Darstellung schriftloser Kulturen am Beispiel der deutschen Weltgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Er konstatiert eine Differenz zwischen dem Anspruch, nichtschriftliche Quellen wie Sitten, Sprache und Dinge zu integrieren und deren tatsächlich fehlenden Einbindung und damit einen Zusammenhang zwischen dem Befund der Schriftlosigkeit und Geschichtslosigkeit.

Der Archäologe Nathan Schlager beleuchtet die methodischen Wechselwirkungen zwischen Biologie und Archäologie und die methodischen Innovationen, die aus der Erforschung schriftloser Quellen folgen kann, anhand des Werks des englischen Universalgelehrten John Evans. In seiner Arbeit zeige sich einerseits der methodische Einfluss der Numismatik auf die Erforschung von Objekten der Vor- und Frühgeschichte (Steinwerkzeuge) sowie andererseits naturgeschichtliche Konzepte in seinen numismatischen Abhandlungen.

Die Kulturwissenschaftlerinnen Gudrun König und Elisabeth Timm befassen sich mit den Methoden der Erschließung von materiellen Quellen am Beispiel des Kurators Otto Lauffer und rekonstruieren dabei die Herkunft des geflügelten Worts der »stummen Dinge«. Sie beleuchten u. a. den Diskurs der 1890er Jahre um die »Überlegenheit der Dinge« (S. 162) als Quellen des »Volkes« und das »Ringen um den Quellenwert der Dinge« (S. 166) aus disziplingeschichtlicher Perspektive. Der Ethnologe Hans Peter Hahn verweist auf die Etablierung der Institution des Museums, das nicht nur als Sammler von Objekten fremder Kulturen, sondern als Ort der Erkenntnisgenese und für die Herausbildung der Ethnologie von Bedeutung war. Zwischen den beiden Leitdisziplinen der Geschichte und der Biologie, habe sich im 19. Jahrhundert die »kulturhistorische Methode« entwickelt, die eine Zivilisationsgeschichte schriftloser Kulturen anhand der formalen Ähnlichkeiten von Objekten und ihrer geografischen Verteilung zu rekonstruieren versuchte.

Der letzte Abschnitt ist »praktischen Perspektiven« gewidmet und meint damit an Problemlösungen orientierte Erweiterungen des geschichtswissenschaftlichen Methodenapparats. Der amerikanische Mediävist Patrick J. Geary zeigt, wie sich neue Erkenntnisse über die europäischen Wanderungsbewegungen des 4.–7. Jahrhunderts anhand einer kombinierten historischen, archäologischen und DNA-Analyse von Grabungsfunden hervorbringen lassen.

Der Archäologe Nikolas Gestrich befasst sich mit der historischen Stadt Ta in Mali und generiert seine Analyse in einer Zusammenschau von archäologischen Befunden, indigenen und arabischen Schriftquellen sowie einer mündlich überlieferten Erzählung. Der Historiker Jens Jäger demonstriert u. a. anhand von Fotografien eines Herero-Chiefs kurz nach 1900, dass diese ein eigenes historisches Narrativ entwickeln und sich den Bedeutungsaufladungen durch beigefügte Texte entziehen. Den Fotografien wohne ein Potenzial inne, »die zeitgenössischen Sinnzuschreibungen zu konterkarieren« (S. 285).

Muriel Favre untersucht den »Wert von Tonquellen für die Geschichtswissenschaft« (S. 304). Dabei wertet sie Rundfunkmitschnitte und andere Tondokumente aus und vergleicht diese mit dem überlieferten Text und vorhandenen schriftlichen Berichten der Wirkung, etwa einer Lesung (Paul Celan, 1952) oder einer Rede (Clara Zetkin, 30. August 1932). Sie nutzt dabei einerseits ihre eigene Wahrnehmung als Werkzeug und andererseits die Auswertung durch Computerprogramme, um den Höreindruck zu objektivieren.

Zwei beeindruckende abschließende Beiträge thematisieren das Sammeln und Aufzeichnen von mündlichen Erzählungen Geflüchteter und von Fundstücken einer Mülldeponie auf Lampedusa im Kontext des aktuellen Migrationsgeschehens (Alessandro Triuizi und Giacomo Sferlazzo). Beide Beiträge machen eindringlich klar, dass Migration auch heute noch zu den zentralen Auslösern von Schriftlosigkeit zählt und dass es zugleich eine große Aufgabe ist, die mündlichen wie dinglichen Zeugnisse zu sammeln und aufzubewahren, ohne sie einer politischen Lesart unterzuordnen.

Die Mehrdeutigkeit nichtschriftlicher Quellen wird mehrfach als methodisches Problem benannt. Scheinbar lassen diese sich politisch leichter aufladen oder instrumentalisieren, in gewisser Weise also gezielter missinterpretieren als schriftsprachliche Quellen. Trotzdem irritiert in einem Band, der die nichtschriftlichen Quellen stärken möchte, die generelle Kritik Hans Peter Hahns, an einer »spekulative[n] Geschichte mit materiellen Objekten«, die sich nicht etwa auf sein eigenes Fach, sondern generell auf die »Humanities« bezieht. Seiner Meinung nach stelle sich die »Lesbarkeit der Objekte immer deutlicher als eine fragwürdige epistemische Annahme heraus« und die Humanities unterlägen einer »problematische[n] Überbewertung des Materiellen« (S. 212).

So bleibt auch nach der Lektüre ein Unbehagen zurück, dass es sich bei nichtschriftlichen Informationsträgern letztendlich um nicht zufriedenstellende Surrogate handeln könnte, deren Wert im Vergleich zu »glaubwürdigeren« Textquellen weiter auf dem Prüfstand steht. Trotz der inspirierenden Fachbeiträge aus den verschiedenen Disziplinen und Wissenschaftslandschaften, führt der Band eine disziplininterne Debatte; den Beispielen aus Archäologie und (europäischer) Ethnologie kommt die Rolle zu, methodische und konzeptionelle Anregungen zu geben. Der Band lädt die Fachkolleginnen und -kollegen dazu ein, sich inhaltlich, konzeptionell und methodisch bis an die Grenzen des eigenen Faches und darüber hinaus zu wagen – und dabei zugleich das Ausfransen des disziplinären Randes zugunsten von neuen Fragestellungen in Kauf zu nehmen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Annette C. Cremer, Rezension von/compte rendu de: Lisa Regazzoni (Hg.), Schriftlose Vergangenheiten. Geschichtsschreibung an ihrer Grenze – von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2019, XVI–346 S., ISBN 978-3-11-055003-0, EUR 69,95., in: Francia-Recensio 2020/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73306