Am 26. August 1938 trafen in Paris 26 Wissenschaftler, Staatsbeamte und Industrielle zu einem fünftägigen Kolloquium zusammen, um über Möglichkeiten der Verteidigung und Erneuerung des Liberalismus zu debattieren. Organisiert hatte das Treffen der französische Philosoph Louis Rougier. Als Anlass diente eine Europareise des renommierten amerikanischen Journalisten Walter Lippmann, der mit seinem 1937 erschienenen Buch »The Good Society« den Versuch unternommen hatte, den wirtschaftlichen und politischen Liberalismus angesichts des Siegeszugs von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus zu erneuern und damit zu »retten«. Das Colloque Walter Lippmann wurde und wird in der einschlägigen Literatur als Geburtsstunde des in den späten 1970er- und den 1980er-Jahren weltweit triumphierenden »Neoliberalismus« gewürdigt.

Eine deutsche Übersetzung des 1939 in französischer Sprache veröffentlichten Protokolls lag bislang jedoch nicht vor. Hier haben der an der Sorbonne lehrende Philosoph und Soziologe Audier und der an der Hoover Institution der Stanford University forschende Reinhoudt mit Hilfe des Übersetzers Michael Hein nun dankenswerter Weise Abhilfe geschaffen – allerdings unter Verzicht auf präzise quellenkritische Anmerkungen. Für die Übersetzung wurde beispielsweise nicht das französische Original, sondern die amerikanische Fassung verwendet – ohne dieses Vorgehen wenigstens zu problematisieren.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Auf gut 60 Seiten bieten Audier und Reinhoudt zunächst eine gelungene zeit- und ideengeschichtliche Einordnung des Kolloquiums. Ihrer Interpretation, dass »diejenigen, die heutzutage als ›Neoliberale‹ bezeichnet werden, häufig einem Freihandels- und Marktradikalismus das Wort reden, der meilenweit entfernt ist von den verschiedenen Versionen eines ›Dritten Weges‹, wie sie in den 1930er-Jahren« (S. 59) und auch von den Teilnehmern des Kolloquiums diskutiert wurden, kann man nur zustimmen. Zwar zählten zwölf der Teilnehmer zur 1947 gegründeten, als »neoliberale Denkfabrik« höchst einflussreichen Mont Pèlerin Society – aber die 14 anderen eben nicht. Somit wäre es irreführend, eine bruchlose Kontinuität zum Colloque Walter Lippmann zu behaupten.

Anschließend stellen Audier und Reinhoudt die 26 Teilnehmer in sehr hilfreichen, mehr oder weniger ausführlichen Kurzbiografien vor. Die größte Gruppe stellten die Ökonomen – darunter Friedrich August von Hayek, Robert Marjolin, Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, die alle später als Politikberater eine wichtige Rolle spielten –, gefolgt von Staats- und Verwaltungsbeamten wie Jacques Rueff, Industriellen wie Louis Marlio und schließlich Philosophen und Soziologen wie Raymond Aron.

Der Einladung Rougiers nicht gefolgt waren u. a. der niederländische Historiker Johan Huizinga, der spanische Philosoph José Ortega y Gasset und der britische Ökonom Lionel Robbins. Die Liste der Teilnehmer und Geladenen lässt erkennen, dass eine Art »liberales Netzwerk« schon vor dem Kolloquium im Entstehen begriffen war.

Der zweite Teil umfasst das Protokoll der Tagung. Nach einleitenden Vorträgen von Rougier und Lippmann mit anschließender Diskussion widmeten sich die Teilnehmer, übrigens ausschließlich Männer, einem breiten Spektrum an Themen: der Frage, ob die Niedergang des Liberalismus endogene Ursachen habe, den Auswirkung der kriegswirtschaftlichen Transformation auf den Liberalismus, dem Zusammenhang von Liberalismus und ökonomischem Nationalismus, der Haltung des Liberalismus zur sozialen Frage, den verschiedenen Ursachen für den Niedergang des Liberalismus, der Agenda zu seiner Rettung und schließlich den theoretischen und organisatorischen Problemen seiner Erneuerung.

Das Protokoll spiegelt, wie Audier und Reinhoudt zu Recht anmerken, »offene und zum Teil hitzige Debatten wieder«, Beleg für eine tiefe »Heterogenität« (S. 64). Uneins waren sich die Diskutanten beispielsweise über die Ideen von Keynes, über die Beurteilung von nationalen und internationalen Kartellen, über die Rolle des Staates im Wirtschaftsgeschehen sowie darüber, ob der Liberalismus fähig sei, »seine sozialen Aufgaben zu erfüllen« und ob das »liberale System die Ursache« der »zahllosen Ungleichgewichte« sei, »die unsere Wirtschaft im Verlaufe der letzten zehn Jahre gekennzeichnet haben« (S. 203). Selbst über den Namen herrschte zeitweise Uneinigkeit: Als Alternativen waren u. a. »konstruktiver«, »positiver«, ja sogar »linker Liberalismus« im Gespräch (S. 43f.) Einig waren sich hingegen alle darüber, dass, so Lippmann, »nur der Preismechanismus, wie er auf freien Märkten funktioniert, eine Organisation der Produktion ermöglicht, die geeignet ist, den bestmöglichen Gebrauch von den Produktionsmitteln zu machen und die Bedürfnisse der Menschen maximal zu befriedigen« (S. 248).

Kein Zweifel, das Protokoll der Tagung stellt ein Schlüsseldokument der Geschichte des »Neoliberalismus« dar, und es verdeutlicht, dass diese Denkschule nicht auf Deregulierung, Steuersenkung, Liberalisierung und Privatisierung à la Reagan und Thatcher reduziert werden sollte.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Serge Audier, Jurgen Reinhoudt, Neoliberalismus. Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Hein, Hamburg (kursbuch.edition) 2019, 303 S., ISBN 978-3-96196-082-8, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73336