Bei der Lektüre des vorliegenden Bandes fallen sofort die Parallelen zwischen den 1930er-Jahren und aktuellen Entwicklungen auf. Angesichts grundlegender gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen und existentieller Bedrohungen überwiegen damals wie heute irrationale Reaktionen, kommen populistische und nationalistische Rezepte bei den Menschen gut an. Die Moderne, die Errungenschaften der Aufklärung, werden diskreditiert und auf dem Altar radikaler Ideologien geopfert. Heilsversprechen aller Art haben Konjunktur und treten an die Stelle von Fakten und Vernunft. Wie reagierten nun damals diejenigen darauf, die als Opfer dieser Entwicklung ausgegrenzt und verfolgt wurden, die deutschen Intellektuellen und Künstler, die ins Exil gehen mussten? Wie setzen sie sich mit der offensichtlich durchschlagenden Macht von Deutungen der Wirklichkeit auseinander, die weniger von Vernunft als von individuellen und ideologischen Deutungen und Interessen getragen sind?

Bei dieser Frage geht es um das grundlegende Verhältnis des Menschen zu den Erzählmustern, mit denen die Wirklichkeit erfasst wird, wie sie im symbolisch aufgeladenen Modus von Mythen zum Ausdruck kommen.

Die als Sondernummer der Zeitschrift »Cahiers d’études germaniques« veröffentlichten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die 2017 von den Zentren für Deutschlandstudien der Universitäten Toulouse und Montpellier in Kooperation mit der Universität Rostock und dem dortigen Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften durchgeführt wurde. Im Zentrum stand die Frage nach der intellektuellen und künstlerischen Auseinandersetzung der Emigranten mit dem Mythos als sozialwissenschaftlicher Kategorie und künstlerischer Praxis und vor allem mit der ideologischen Vereinnahmung und Instrumentalisierung vorhandener Mythen durch die Nationalsozialisten.

In insgesamt sechs Abschnitten gehen die Beitragenden dieser Frage nach. Eine eher theoretische Auseinandersetzung bieten die ersten drei Aufsätze zum Thema. Yves Bizeul weist mithilfe einer genauen Analyse von Textpassagen aus einer erweiterten Fassung des Textmanuskripts von »The Myth of the State« nach, dass Ernst Cassirer seine kritische Sicht des Mythos im Exil revidiert und zugesteht, dass angesichts des Erfolgs mythischer Erzählungen kritische Vernunft allein nicht ausreicht und dass die Produktion von Mythen dem Menschen offensichtlich inhärent ist. Tilman Reitz zeigt, wie Walter Benjamin und Theodor Adorno sich mit der vernunftleugnenden Kraft des Mythos auseinandersetzen und diese gesellschaftskritisch zu erklären versuchen.

Der Rückfall des Menschen in Mythos, Irrationalität und Barbarei ist demzufolge kein Unfall der Geschichte, sondern die logische und unausweichliche Folge eines blinden Rationalismus. Beide plädieren für hybride Modelle, in denen sich Vernunft und Gefühl mischen. Reitz zufolge rehabilitiert Walter Benjamin zwar nicht den Mythos, doch ausgehend von seinen Forschungen zu den Pariser Passagen lässt er den Begriff der »Ambiguität« zu, der anstelle von Linearität die Möglichkeit von Alternativen und Entwicklungen und damit eine Dialektik ausdrückt. Eine solche Ambiguität findet sich Heinrich Mann zufolge auch bei Friedrich Nietzsche, dem er während seines französischen Exils (1933–1940) einen Essay widmet.

In einer sehr fundierten Analyse untersucht Cordula Greinert in ihrem Beitrag, »wie Heinrich Mann sich zu einigen Theoremen Nietzsches positionierte, die entweder schon selbst aufgeladen oder aber mittlerweile zu Mythen transformiert und nationalsozialistisch usurpiert worden waren« (S. 64). Heinrich Mann nutzt verschiedene Argumentationsstrategien, um die Ambivalenz von Nietzsches Philosophie herauszuarbeiten und damit deren Vereinnahmung zur Legitimierung von politischer Gewaltherrschaft zu unterminieren.

Ein weiteres Kapitel ist der Auseinandersetzung mit Mythen gewidmet, die von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurden. Stefanie Matuschek liest den im amerikanischen Exil verfassten und 1947 veröffentlichten »Doktor Faustus« von Thomas Mann als mythenkritischen Roman, Stephanie Wodianka interpretiert Fritz Langs Film »Fury« von 1936 als eine neue Nibelungenklage unter den Vorzeichen der Moderne und des Exils. »Die wachsende Unvertrautheit und Entfremdung Amerikas von Gründungs- und Bestandsmythen wie Freiheit, Fortschritt, American Dream, Zivilisation und Verfassung wird von Fritz Lang in ›Fury‹ durch den Rekurs auf ›Die Nibelungen‹ als gefährliche zeitgenössische politische Gemengelage in den USA identifiziert, die zu Entwicklungen führen kann, die jenen des nationalsozialistischen Deutschland ähneln, vor denen er ins Exil geflohen war« (S. 199).

Eine der Mitherausgeberinnen des Bandes, Andrea Chartier-Bunzel, analysiert Texte der beiden Exilautoren Friedrich Wolf und Walter Mehring, die jeweils vor der Instrumentalisierung des »Langemark-Mythos« vom freiwilligen Heldentod einer opferbereiten, idealistischen Jugend warnen.

Es überrascht nicht, dass die Exilanten angesichts ihrer Situation auf die Odyssee und den antiken Mythos der Irrfahrt rekurrieren. In »Die babylonische Reise« (1934) thematisiert Alfred Döblin das Exil als Ursituation eines in die Welt geworfenen Menschen, als Sinnsuche, die bei ihm schließlich eine Konversion zum Katholizismus zur Folge hat. Odysseus steht auch im Zentrum der Novelle »Odysseus und die Schweine« von Lion Feuchtwanger. Frédéric Teinturier deutet sie als philologische und ironische Auseinandersetzung über die Einflussmöglichkeit des Wortes in totalitären Zeiten. Auf ganz andere Weise wird das Thema der Reise beim österreichischen Exilanten Fred Wander bearbeitet, dem Alfred Predhumeau ein ausführliches Porträt widmet. Seine Utopie besteht nicht in der Erlösung durch eine religiöse Rettung, sondern sie ist von dieser Welt. Bei ihm wird Frankreich zum Gegenstand mythischer Projektionen – wobei hier ein sehr weit gefasster Mythosbegriff zugrunde gelegt wird.

Die Auseinandersetzung der Exilanten mit biblischen Mythen, die Gegenstand eines weiteren Kapitels ist, bildet insofern einen interessanten Aspekt, als die Bilderwelt und die Geschichten des Alten Testaments aufs Engste mit dem Judentum verbunden sind und dies die Naziideologen vor das Dilemma stellte, wie damit umzugehen sei.

Mit seiner Trilogie »Joseph und seine Brüder« (1933–1943) versucht Thomas Mann die Erzählung aus dem Alten Testament zu einer »weltmenschlichen«, kosmopolitischen Mythologie aufzuwerten, indem er die vielfältigen Bezüge deutlich macht und auch die kulturellen Quellen, aus denen sich der Mythos speist. Für andere Exilanten wie z. B. für Karl Wolfskehl oder Else Lasker-Schüler, jeweils in Beiträgen von Sonia Schott und Katja Wimmer, dient der Rückgriff auf die jüdische Geschichte dazu, existenzielle Fragen zu bearbeiten.

Lutz Hagestedt widmet sich speziell der Lyrik Bertolt Brechts im Exil. Auch diese Gattung nutzt Brecht, um die antiken und biblischen Mythen einer kritischen Revision zu unterziehen.

Gegenentwürfe oder »alternative Mythen« und ihre Funktionalität oder auch Effektivität, sind Gegenstand von zwei Beiträgen, die den Band abschließen. Jörg Thunecke beschreibt die politische und ideologische Wandlung Curt Geyers, einem Mitarbeiter des »Neuen Vorwärts«, der im Pariser Exil von einem Verfechter und Fürsprecher der Idee eines »anderen Deutschlands« zu ihrem virulenten Gegner wurde; eine Frage, die unter den Emigranten in Frankreich kontrovers diskutiert wurde.

In ihrem Beitrag über die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer und deren Biografie über Adelheid von Burgund »Adelheid, Mutter der Königreiche« stellt Christina Stange-Fayos die These auf, dass die Autorin auf verschlüsselte Weise, nämlich durch die Reaktivierung eines weiblichen Mythos, versucht, gegen die Zurückdrängung der Frauen aus der öffentlichen Sphäre anzugehen. Eine gewagte These angesichts der opportunistischen Anpassung Bäumers an das nationalsozialistische Regime, die von Christina Stange-Fayos jedoch durchaus überzeugend vorgetragen wird.

Als Fazit der Beiträge drängt sich in einer Gesamtschau leider nur die fatale Sicht eines Carl Einstein auf, dessen intellektuellen und politischen Weg Klaus Kiefer nachzeichnet. Angesichts der Wirkungsmacht der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten zweifelte der Kunsthistoriker an der Möglichkeit, die Barbarei mit Vernunft und Worten zu besiegen. Seine konsequente Antwort auf diese Erkenntnis war der Griff zur Waffe und die Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg.

Die Beiträge des Bandes bieten eine große Bandbreite an Informationen und neuen Forschungsergebnissen. Dazu trägt auch der interdisziplinäre Ansatz bei, der verschiedene sowohl literarische als auch sozialwissenschaftliche Perspektiven auf das Thema ermöglicht. Der Fokus auf den Mythos erweist sich – trotz der Bandbreite des Themas – als ein ergiebiger und überzeugender Ansatz.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Mechthild Gilzmer, Rezension von/compte rendu de: Andrea Chartier-Bunzel, Mechthild Coustillac, Yves Bizeul (dir.), Émigration et mythe. L’héritage culturel de l’espace germanique dans l’exil à l’époque du national-socialisme, Aix-en-Provence (Presses universitaires de Provence) 2019, 296 p. (Cahiers d’études germaniques 76 [2019/1]), ISBN 979-10-320-0214-8, EUR 15,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73341