Am 26. September 2017 hielt Emmanuel Macron in der Pariser Sorbonne eine Rede. Es ging um die Zukunft Europas, um die Zukunft der EU. In einer Zeit der wieder aufkommenden Nationalismen, des Brexit, des Klimawandels und der Flüchtlingskrise beschwor der französische Staatspräsident die Einheit der Mitgliedsstaaten. Man müsse zusammenhalten, sich auf gemeinsame Werte besinnen und für eine gemeinsame Zukunft kämpfen. Keinesfalls dürfe man den Partikularismen, dem Protektionismus und einem rückwärtsgewandten Nationaldenken das Feld überlassen. »Trop longtemps, nous avons cru avec certitude que le passé ne reviendrait pas, nous avons pensé que la leçon était retenue, nous avons pensé que nous pouvions nous installer dans la langueur, l’habitude, abandonner un peu de cette ambition, de cet espoir que l’Europe devait porter puisqu’elle devenait comme une évidence dont nous aurions perdu le fil«1. Eine Rede, die weitgehend verhallte, der keine Taten und der vor allem kein gemeinsames Zukunftskonzept folgte. Die EU zehrt von ihrer verbleichenden Vergangenheit, stagniert.

Christopher Clarks neuestes Buch ist hochgradig aktuell – der Verfasser nimmt die gegenwärtige politische Situation zum Anlass seiner Reflexionen über das Verhältnis von Macht und Zeit, vom Zusammenspiel von Geschichtsdeutung, Zukunftsvisionen und politischem Gestaltungswillen. Sein Betrachtungsgegenstand ist dabei nicht Europa, sondern sein sachliches Spezialgebiet Deutschland. Im Gegensatz zu seinen weit gefeierten »Sleepwalkers«2 ist Clarks »Time and Power« erfrischend dünn. Auf nur 293 Seiten reiht der australisch-britische Historiker vier kurze, fallstudienartige und in bester angelsächsischer Tradition verfasste, essayistisch angelegte Kapitel aneinander, vier Querschnitte durch Zeit und Macht.

Mit dem »Großen Kurfürsten« Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen, Friedrich dem Großen, Otto von Bismarck und der nationalsozialistischen Elite um Adolf Hitler stehen viele »große Männer« in recht klassischer Manier im Zentrum dieser Studie. Doch gelingt es Clark mit nahezu meisterlicher Eleganz historische Betrachtungen mit Theoriedebatten und gegenwärtigen Fragestellungen zu verknüpfen. Methodisch beruft er sich dabei auf François Hartog und Reinhart Koselleck und den »temporal turn«. Clarks Ziel ist es, das zeitliche Bewusstsein seiner Akteure durch die Linse der Macht zu brechen. Er befasst sich mit der Frage, wie historische Akteure ihre Macht und Herrschaftsstrukturen argumentativ mit Zeitlichkeitsvorstellungen verknüpften und aktiv für sich nutzen.

Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Preußen ist Clarks erster »zeithistorischer« Untersuchungsgegenstand. In den 48 Jahren seiner Macht war er derjenige Regent, der die Grundlagen für Preußens Vormachtstatus legte. Der Grundkonflikt und die Triebfeder seines Machtausbaus war die Auseinandersetzung mit den Ständen. Als der junge Kurfürst mit 20 Jahren 1640 die Herrschaft antrat, hatte er ein durch den Dreißigjährigen Krieg verwüstetes Land geerbt, das es wieder aufzubauen galt. Die althergebrachte Machtbalance mit den Ständen wurde vom neuen Kurfürsten herausgefordert, er verlangte die Fortzahlung der kriegsbedingten Sondersteuern, die er verstetigen wollte, vor allem um sein Heer auszubauen.

Während die Stände gewohnheitsrechtlich gegen die Steuern argumentierten und sich auf ihre traditionellen und historischen Rechte beriefen, hielt Friedrich Wilhelm dem eine auf die Zukunft ausgerichtete Argumentation entgegen. Das Land müsse für nachfolgende Generationen konsolidiert werden. In einer Zeit, in der sich Rechte, Macht und Privilegien vor allem durch ihre historische Verbürgung legitimierten, war die auf einen Zukunftsdiskurs aufgebaute Neujustierung der Machtverhältnisse im Kurfürstentum auf Kosten der Stände laut Clark Ausdruck einer neuen Form des Zeitlichkeitsbewusstseins und dessen politischer Nutzung.

Friedrich der Große pflegte ein anderes Verhältnis zu Zeit und Macht als noch sein Urgroßvater einige Jahrzehnte zuvor. Er stand geistig zwischen dem Fortschrittsglauben der Aufklärung und einem statisch-ästhetisierten Zeitverständnis. Er regierte auch anders als sein Vorfahr, weniger im Tagesgeschäft, vielmehr intellektuell-distanzierter. Friedrich II. hatte seine Macht in Preußen nicht so mühsam konsolidieren müssen wie Friedrich Wilhelm, Macht erschien ihm weitaus zeitloser. Ein wesentlicher Faktor für das Selbstverständnis Friedrichs II. war jedoch seine, wie Clark es ausdrückt, nahezu pathologische Eitelkeit. Die übersteigerte Überzeugung von der eigenen Einzigartigkeit habe bei Friedrichs Machtverständnis dazu geführt, aus der genealogischen Linearität der Herrschaftslegitimation auszubrechen und sich selbst als Herrscher zu »entzeitlichen« und quasi absolut zu setzen. Dies sei – unter anderem – ein Grund für die Weigerung Friedrichs II. gewesen, sich um eigene Nachkommen zu bemühen beziehungsweise dafür, nicht im Familiengrab beigesetzt zu werden, um sich so der gängigen dynastischen Herrschaftslogik zu entziehen.

Zu Bismarcks Zeiten hatte sich bereits ein fundamentaler Wandel ergeben: das Konzept der »Geschichte« im modernen Sinne hatte sich bereits herausgebildet. Geschichte diente nicht mehr als bloße Sammlung von exempla, sondern wurde als lebendiger, dynamischer Prozess verstanden, als Medium, sich in der Gegenwart mit der Vergangenheit in Bezug zu setzen. Die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege oder auch die sozialen Veränderungen durch die Industrialisierung bedeuteten das Ende einer gleichförmigen Geschichtsbetrachtung.

Bismarck selbst bemühte gern das Bild des »Steuermanns«, um seine Rolle als politischer und somit auch historischer Akteur zu beschreiben. Den Strom der Zeit selbst könne man als Mensch nicht beeinflussen, man könne ihn nur befahren. Bismarck verortete sich dabei zwischen einer Art transzendenten, überzeitlichen Kontinuität des Staates und den Brüchen und radikalen politischen Ereignissen seiner Gegenwart. Der Staat wurde für Bismarck zum Fels in der Brandung des Zeitstroms, die Warte, von welcher er von oben herab auf die Geschehnisse blickend, er diese zu dirigieren und Gefahren zu umschiffen suchte. Das erste »Ende der Geschichte« zeichnete sich laut Clark nun 1918 ab, als sich zeigte, dass Bismarcks Fels, der Staat, doch erodiert war und sein Erbe keinen Bestand hatte.

Die Nationalsozialisten klinkten sich aus der Geschichte aus. 1933 sollte ein Bruch sein, in keiner Kontinuität stehen. Der neue Schrittmesser war die Rasse, kein kulturelles und historisches Werden eines Volkes, sondern dessen biologische, der Natur unterworfene Eigenheit. Für Clark schrieb der Nationalsozialismus sich ein in eine »racial continuum-time of a transhistorical memory«. Clark stellt auch die internen Konflikte und Widersinnigkeiten unter den nationalsozialistischen Ideologen heraus. Während die Propaganda eindrucksvoll über sogenannte Revolutionsmuseen versuchte, die Bevölkerung für die neue »rassische« Zeit zu gewinnen, wuchs zugleich die Bedeutung der Archäologie und Frühgeschichte, um die biologische Hegemonie der Deutschen auch historisch-kulturell zu belegen. Während Clarks Verdichtung der Zeit-Macht-Debatte auf jeweils eine konkrete Herrscherpersönlichkeit sich in den ersten drei Kapiteln sich als reizvoll erweist, kann der Verfasser die Vielzahl der NS-Akteure und deren Zeitkonzeptionen im vierten Kapitel jedoch oft nur anreißen, als in die Tiefe zu gehen.

Clark schließt seine Querschnittstudie mit einem Ausblick auf die Gegenwart und ordnet seine Betrachtungen in einen weiteren historischen Kontext ein. Er reißt die europäische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg an und den Machtkampf zwischen Ost und West. Er diagnostiziert der Welt eine »exhaustion of the future« à la Fukuyama. Diese habe mittlerweile auch die EU erfasst, deren Zukunftsversprechen des Friedens seine Strahlkraft verloren habe.

Ob Macron mit in seiner Europa-Rede einen längst vergangenen Geist beschworen hat, wird sich erst noch zeigen müssen. Christopher Clark jedoch legt mit seinem Buch eine mit großer Leichtigkeit und gutem Gespür für die »Zeichen der Zeit« verfasste, treffende wie anregende Analyse der Verknüpfungen von Zeit und Macht vor, die sich mitunter als eine Parabel auf die eigene Gegenwart liest. Damit zeigt der australisch-britische Historiker einmal mehr auf, was die Menschheit – und die Herrschenden – schon immer umtrieb: Tempora mutantur.

2 Vgl. den Literaturbericht von Arndt Weinrich, »Großer Krieg«, große Ursachen? Aktuelle Forschungen zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs, in. Francia 40 (2013), S. 233–252.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Philipp Glahé, Rezension von/compte rendu de: Christopher Clark, Time and Power. Visions of History in German Politics, from the Thirty Years’ War to the Third Reich, Princeton (Princeton University Press) 2019, XII–293 p., num. b/w fig. (The Lawrence Stones Lectures), ISBN 978-0-691-18165-3, GBP 24,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73342