Die Rede von der mobilen Welt ist allgegenwärtig. Mobilität dominiert nicht nur in Warenverkehr, Tourismus und Reisen, sondern auch die moderne Arbeitswelt und Politik. In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts scheint es selbstverständlich, dass auch Macht mobil ist und sein muss. Dies ist jedoch kein neues Phänomen, Macht und Mobilität sind eng miteinander verbunden. Diesem wichtigen Thema widmet sich der Sammelband »Le gouvernement en déplacement. Pouvoir et mobilité de l’Antiquité à nos jours«. Die Herausgeberin und die Herausgeber, Josiane Barbier, François Chausson und Sylvain Destephen, treten mit einem großen Ziel an: eine chronologisch und geografisch umfassende Darstellung der Geschichte von Macht in Bewegung.
Sie haben sich dabei gegen ein Handbuch und für eine Sammlung von Fallstudien entschieden, welche in vier beinah autonome Teile mit eigenen Einleitungen und Zusammenfassungen (Antike, Mittelalter, Moderne, Zeitgeschichte) mit je ca. zehn Kapiteln unterteilt sind. Angesichts der großen, umfassenden und doch notwendigerweise nicht repräsentativen Auswahl an Fallstudien ist besonders interessant, was der Sammelband in diesen Meta-Kapiteln methodologisch anbietet. Die Einleitung (Josiane Barbier/François Chausson) thematisiert die Probleme der chronologischen Breite des Vergleichs: Staat und Regierung bedeuten in verschiedenen Epochen Verschiedenes und müssen hier auf einen kleinsten gemeinsamen Teiler runtergebrochen werden (S. 8). Um den Vergleich zu ermöglichen, soll besonderes Augenmerk auf Logistik, Verlauf und Räume sowie dadurch entstehende Erinnerungsräume (lieux de mémoire) und auf politische Liturgien gelegt werden (S. 9). Die Reise sei die Prüfung der Realität der Macht (S. 10). Um eine Typologie anzugehen, gelte, es 1) Zeit und Raum (S. 12), 2) die Umwandlung des Bruchs der Gewohnheit in etwas Symbolisches (S. 13), und 3) die Aufteilung, Repräsentation und Delegation von Macht (und damit auch die Dezentralisierung von Macht) zu betrachten (S. 14). Diese Punkte werden auch in den folgenden Querschnitttexten der chronologischen Teile aufgegriffen.
Josiane Barbier verweist darauf, dass der »changement d’echelles« (Ebenenwechsel) sowie Techniken und Wissen zur Untersuchung mobiler Macht zentral sein sollen (S. 170f.). Claude Gauvard resümiert, dass mobile Macht das Wechselverhältnis von Zentrum und Peripherie verändert, da das Zentrum seine Dominanz aufteilt (S. 349). Er verweist auf die besonderen Herausforderungen in der Arbeit mit Quellen, insbesondere mit Blick auf das Mittelalter: Zeitpläne sind nicht immer erhalten, schriftliche Quellen oft im Nachhinein und unvollständig erstellt und oft subjektiv gefärbt (S. 350). Eine historiografische Untersuchung des Ortswechsels stellt zudem den Körper des Königs in den Mittelpunkt, mit dem sich die Macht bewegt (S. 350f.), während sie zugleich auch vom Körper des Königs getrennt und durch Diplomaten und/oder Vertreter zu Hause geteilt wird (S. 352). Schließlich nimmt Kommunikation an Bedeutung zu, mit der zwischen König und Untertanen auf seinen Reisen, aber auch zwischen dem König und dem »festen« Hof Kontakt aufrechterhalten wird: Nachrichtenträger und Postwege nehmen an Häufigkeit und Bedeutung zu (S. 354).
Françoise Hildesheimer diskutiert inwieweit die vielbeschworene Zäsur zur Moderne sich auch in der Untersuchung der mobilen Macht feststellen lässt. Auch sie setzt den Herrscher und seinen Körper in den Mittelpunkt, betont jedoch auch die zunehmende Institutionalisierung des Herrschaftsumfeldes, in dem sich ein Wechselspiel zwischen mobilem Herrscher und Hof einerseits und dem sesshaften Parlament andererseits entwickelt (S. 360f.). Der Aufbau von Verwaltung und Justiz führt dazu, dass die physische Anwesenheit des Herrschers zwar weiterhin im Mittelpunkt steht, aber nun Regieren auch ohne sie möglich ist (S. 363).
Marc Belissa greift diese Gedanken auf und führt sie weiter: sei in der Vormoderne die mobile Macht noch das Übliche gewesen, so sei sie in der Moderne ungewöhnlich und bezeichne einen Ausnahmezustand, der jedoch dennoch zugleich fester Bestandteil des Repertoires der Staatsbildung sei (S. 539). König und Regierung bewegen sich, so Belissa, nicht mehr als Selbstzweck sondern zum Zwecke der Verwaltung, der Justiz, der Steuererhebung, der Konfliktregelung (S. 540f.). Mobilität, ausgehend von einer festen Metropole, kennzeichne in der Moderne die Kontrolle des Staates, der sich unter anderem über ein festes Territorium definiert. Mobilität sei also die Ausübung der Macht über den Raum (S. 546).
Christine Manigand steigt mit ihrer These ein: »Le mouvement perpétuel«, immerwährende Bewegung, sei symptomatisch für Macht im 20. Jahrhundert. Dies werde von den hier versammelten Kapiteln über die Analyseachsen Typologie der Reisen, Geografie, Logistik und Auswirkungen untersucht (S. 549). Gilles Le Béguec identifiziert zwei Konstanten in den zeitgenössischen Beiträgen: erstens, eine Permanenz der Mobilität, zweitens, ein Dreieck aus Nähe, Entfernung und Kommunikation (S. 703f.). Er plädiert dafür, die Mobilität stärker zu typologisieren und zu unterscheiden, welches der Anlass der Reisen war (offiziell/privat), ob es sich um »individuelle oder halbindividuelle« Reisen handelte, ob die Mobilität aus freien Stücken begann oder durch Umstände erzwungen war (S. 706f.). Sylvain Destephen schließlich bindet die Stränge des Sammelbands in einem Fazit zusammen und stellt dabei Zeit, Zeugen (Quellen) Räume und Bilder (Kommunikation) in den Mittelpunkt (S. 709–715).
Angesichts des Umfangs von knapp über 750 Seiten stellt sich die Frage, ob dieser Sammelband nicht in vier aufeinanderfolgenden Themenheften besser aufgehoben gewesen wäre. Auf der anderen Seite ist der Versuch eines Gesamtüberblicks natürlich auch reizvoll, können doch hier gemeinsame methodische und typologische Fragen in einem diachronen und globalen Vergleich herangezogen werden. Leider wird hier der Ansatz, mit Fallstudien statt im Handbuchcharakter vorzugehen, ein Fallstrick in doppelter Hinsicht: So kann die Auswahl der Fallstudien nicht repräsentativ sein, sondern bleibt nicht weiter thematisierten Kriterien geschuldet.
Lobenswert hervorzuheben ist die Einbindung osteuropäischer Themen, enttäuschend die mangelnde Berücksichtigung kolonialer und globaler Themen. Diese hätten den Sammelband auch inhaltlich erweitern können: Inwieweit sind die hier aufgeworfenen Fragestellungen eng gebunden an die westlich-europäische Vorstellung eines Nationalstaats mit fester Hauptstadt? Wie viele Fragen würden sich unter anderen politischen Systemen anders stellen?
Auch eine deutlich stärkere Genderperspektive wäre angesichts des umfassenden Sammelbandes wünschenswert gewesen. Zwar widmen sich im Teil zur Moderne zwei Beiträge dem Thema – zu Catherine de Médicis (Jérémie Foa/Matthieu Gellard) und Elisabeth I. von England (Mary Hill Cole), doch wären hier wohl in allen Epochen Fallstudien zur Hand gewesen: insbesondere in der Zeitgeschichte hätte die steigende Bedeutung weiblicher Macht etwa am Beispiel von Regierungschefinnen wie Margaret Thatcher und Angela Merkel, oder aber Monarchinnen: Königin Elisabeth II., Königin Beatrix oder Königin Wilhelmina hätten das Repertoire hier sinnvoll ergänzen können.
Mit diesen Frauen hätten sich auch andere spannende Themen verbunden: Kolonialreich, Dekolonialisierung und koloniales Erbe wie auch die Frage nach mobiler Macht im Krieg – ein hier beinah völlig ausgeblendetes Thema. Zwar ist der Themenbereich mobiler Macht an sich schon groß genug. Aber die Vernachlässigung der Themen ist überraschend und so wirken die verbliebenen Fallstudien mitunter wie eine Schönwetteruntersuchung mobiler Macht. Man befasst sich lieber mit Identitätsstiftenden Komponenten als mit konfliktreicheren Situationen. Damit wird aber auch der Fokus verschoben: Geht es insbesondere in den früheren Epochen, aber auch in den Fallstudien mit prekärer Staatlichkeit um Staats- und Machtbildung und Durchsetzung, so wenden sich die zeitgenössischen Beispiele »weicheren« Themen zu, in denen Macht und Mobilität mit Blick auf soziale Kontakte, Identifikation, Identitätsbildung, Propaganda, und Kommunikationsformen untersucht. Diese Ansätze fallen in den Bereich einer Kulturgeschichte der Politik und des Politischen, welche in den letzten Dekaden ihre Berechtigung gezeigt hat. Schade (und angesichts der präsentierten Untersuchungen überraschend), dass diese methodologisch fruchtbaren Ansätze in der Zusammenfassung etwas spöttisch betrachtet werden. Ein stärkerer Blick auf Macht und Mobilität in Krisen und Kriegen hätte – durchaus mit ähnlichen Ansätzen – die Bandbreite erweitern können.
Insgesamt bietet der Band trotz dieser Einwände einen umfassenden Überblick über die französischsprachige Forschung zum Thema, die Beiträge regen zum Blättern und Weiterlesen an und so bietet der Sammelband einen guten Anlaufpunkt für alle, die sich für das Verhältnis von Macht und Mobilität interessieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Julia Eichenberg, Rezension von/compte rendu de: Sylvain Destephen, Josiane Barbier, François Chausson (dir.), Le gouvernement en déplacement. Pouvoir et mobilité de l’Antiquité à nos jours, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2019, 756 p., XXIV p. de pl., nombr. ill. en n/b et en coul. (Histoire), ISBN 978-2-7535-7680-3, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73346