Auch unter dem Vichy-Regime arbeiteten französische Wissenschaftler weiter, so gut es eben ging. An manchen Orten und Universitäten war es einfacher als anderswo. Toulouse, etwa, war weniger pétainistisch durchsetzt. Sogar der Erzbischof nahm an einer Tagung kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teil, deren Vorträge Isabelle Gouarné nun wieder zugänglich gemacht hat. Am 23. Juni 1941 versammelte sich in einem Hörsaal der philosophischen Fakultät eine Gruppe von Gelehrten verschiedener Fächer (Philosophie, Psychologie, Geschichte, Geografie, Soziologie und sogar Naturwissenschaften), um über »Arbeit und Technik« zu debattieren. Veranstalterin war die kurz vorher gegründete Société toulousaine d’études psychologiques. Initiator war der 1940 nach Toulouse berufene Psychologe Ignace Meyerson (1888–1983), welcher seit 1920 auch Sekretär des französischen Psychologenverbandes und Redakteur des »Journal de psychologie normale et pathologique« war. Als sein Adlatus fungierte der junge Jean-Pierre Vernant (1914–2007), der in den 1960er Jahren als Begründer einer historischen Psychologie des antiken Griechenlands berühmt werden sollte. In Toulouse war er lediglich Philosophielehrer an einem Gymnasium (als Nachfolger von Georges Canguilhem) – und nebenbei einer der Köpfe der Résistance.

Betrachtet man die Liste der eingeladenen Referentinnen und Referenten genauer, wird sofort augenscheinlich, warum nicht nur das wissenschaftliche Thema – interdisziplinäre Betrachtungen über die Vorstellungen und den tatsächlichen Wandel von Arbeit und Technik von der Antike bis zur industriellen Gegenwart – , sondern auch die Versammlung als solche brisant sein musste: Neben einheimischen Professoren waren nämlich prominente Vertreter aus der Hauptstadt angekündigt wie die Philosophen André Lalande und Paul Vignaux, die Historiker Lucien Febvre, Marc Bloch und André Aymard, der Ethnologe Marcel Mauss und der Mathematiker Jacques Hadamard. Hinzu kam der marxistische Soziologe Georges Friedmann. Selbst wenn Febvre und Mauss nicht persönlich anreisen konnten – denn noch immer trennte die deutsche Demarkationslinie den besetzten Norden vom Süden des Landes –, sondern ersatzweise Manuskripte schickten, war damit ein breites intellektuelles und politisches Spektrum vertreten: Katholiken, Liberale, Marxisten, und zwar sowohl sozialistischer wie kommunistischer Couleur. Als gemeinsamer Nenner wären allerdings republikanische politische Grundwerte und, wie die Herausgeberin in ihrer ausgezeichneten Einleitung sehr genau herausarbeitet, ein „republikanisches“ Wissenschaftsverständnis zu nennen, das in dieser dunklen Zeit jenes »Beharren im Sein« erleichterte, das z. B. der Spinoza-Kenner Friedmann in seinen Briefen immer wieder betonte. Auch die heftige Auseinandersetzung um die Fortführung der »Annales«, die im Mai 1941 zwischen Bloch und Febvre stattfand, ist vor diesem Hintergrund zu sehen.

Der intellektuellen Selbsterhaltung im Gegensatz zur anti-modernen Ideologie des Pétain-Regimes, das den Wissenschaftsoptimismus der Dritten Republik als unchristlichen »scientisme« denunzierte, diente auch diese Tagung, deren Referate und Diskussionsbeiträge zuerst 1948 als Schwerpunktheft des »Journal de psychologie« publiziert wurden. Gouarné, die vor einigen Jahren bereits eine ausgezeichnete Arbeit zum akademischen »Philosowjetismus« in den 1920er und 1930er Jahren vorlegte1, hat sie nun erstmals kontextualisiert und im Anhang zahlreiche Dokumente und Briefwechsel hinzugefügt, darunter unveröffentlichte Briefe von Bloch, Febvre und Mauss an Ignace Meyerson (übrigens ein Neffe des Philosophen Émile Meyerson).

Ein Dokument konnte sie freilich nicht abdrucken, sondern nur zitieren (vermutlich aus urheberrechtlichen Gründen), nämlich die relativ ausführliche Rezension des Tagungsbandes von 1948 durch keinen geringeren als Canguilhem, die kürzlich auch in dessen Werkausgabe erschienen ist2. Darin unterstreicht der Wissenschaftsphilosoph die Bedeutung der Thematik von Arbeit und Arbeitsorganisation im Blick auf die menschliche Physis und Psyche, kann sich aber – interessanterweise – eine leichte Kritik an Bloch und Mauss nicht verkneifen, die in seinen Augen allzu fortschritts- und technikgläubig argumentiert hätten. Hier liegt in der Tat eine weitere Brisanz dieser Beiträge, die auch die Herausgeberin in ihrer Einleitung herausstellt, indem sie auf die in den dreißiger Jahren grassierende »Krise der Vernunft« hinweist, die auf der einen Seite zu einem neuen Mystizismus – teilweise gestützt auf Bergson – und auf der anderen Seite zu einer dogmatischen Abwehr in Form eines stalinistischen Überrationalismus geführt habe.

2 Georges Canguilhem, Œuvres complètes, t. IV: Résistance, philosophie biologique et histoire des sciences (1940–1965). Textes présentés et annotés par Camille Limoges. Préface de Camille Limoges, Paris 2015, S. 343–347. Erstmals in: L’Année sociologique, 3e série (1940–1948), , t. II, p. 773–775.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Schöttler, Rezension von/compte rendu de: Isabelle Gouarné (dir.), Les Sciences sociales face à Vichy. Le colloque »Travail et Techniques« de 1941, Paris (Classiques Garnier) 2019, 334 p. (Histoire des techniques, 18. Les textes fondateurs, 2), ISBN 978-2-406-09567-5, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73349