Die an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam entstandene Dissertation von Katrin Jordan ist brandaktuell. Die Analyse der Reaktionen der französischen und bundesdeutschen Gesellschaften auf den Reaktorunfall in Tschernobyl bietet vielfältige Ansätze und Erkenntnisse zur Erklärung der unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Katastrophen in verschiedenen Ländern – ein Thema, das angesichts der COVID-19-Pandemie erneut große Bedeutung erlangt hat.
Die Unterschiede in den Reaktionen auf den Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl im April 1986, der bis zum heutigen Tage als schwerste Katastrophe in der zivilen Kernenergienutzung gilt, waren im Vergleich der Bundesrepublik Deutschlands und Frankreichs besonders eklatant. Während auf bundesdeutscher Seite schnell die Sicherheit der Kernkraftwerke generell in Frage gestellt wurde, ist für die Reaktionen der französischen Seite der Stopp der radioaktiven Wolke an der deutsch-französischen Grenze legendär.
Jordan unterstreicht die Sonderstellung, die beide Länder im Blick auf diese Auseinandersetzung im europäischen Vergleich eingenommen haben und betont, dass die Frage der Kernenergienutzung im Verlauf der 1980er-Jahre die Gefahr einer Entzweiung beider Gesellschaften heraufbeschworen habe. Im Mittelpunkt der klar strukturierten und spannend zu lesenden Untersuchung des unterschiedlichen Verlaufs der Tschernobyl-Debatte in beiden Ländern steht die Deutung des Unfalls in der Medienöffentlichkeit.
In der einleitenden Untersuchung des politischen Umgangs mit dem Reaktorunfall – angefangen von der Verschleierungstaktik der Sowjetunion über die nur sehr schlecht koordinierten Reaktionen im bundesdeutschen Krisenmanagement bis zur nur nach und nach kritisch hinterfragten Leugnung der Gefahren auf französischer Seite – wird die Verschiedenartigkeit der politisch-administrativen Systeme zur Erklärung der unterschiedlichen Reaktionen auf beiden Seiten des Rheines herangezogen. Als Schlüssel für den unterschiedlichen Verlauf der Debatte hebt die Verfasserin jedoch die Unterschiede in der Präsenz kritischer Expertise in der Medienöffentlichkeit hervor, die sie über die Traditionen und Strukturen der Mediensysteme und journalistischen Praktiken ebenso erklärt, wie über die unterschiedlichen Verläufe des Kernenergieausbaus und der Protestbewegungen und die Interaktion zwischen den Medien und Journalisten einerseits und den kritischen Experten andererseits. Dabei wird betont, dass die Tschernobyl-Debatte in beiden Ländern eine wichtige Etappe für die Institutionalisierung und Professionalisierung der kernenergiekritischen Expertise war.
Über die Analyse der in der medialen Berichterstattung vorherrschenden Deutungsmuster zeigt Katrin Jordan, dass in der Bundesrepublik die generelle Kritik an der Kernenergienutzung mit einer zivilisationskritisch inspirierten Infragestellung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts verbunden wurde, während auf französischer Seite bis hinein in die Kreise der Kritiker die Kerntechnik als solche nicht mehr in Frage gestellt wurde. Dabei rekurriert Jordan nicht auf das immer wieder ins Spiel gebrachte Stereotyp mentaler Unterschiede zwischen den »romantischen und naturliebenden Deutschen« und den »rationalen, fortschrittsgläubigen Franzosen«. Vielmehr habe sich in der Bundesrepublik mit der Diskussion um die Kernenergienutzung eine Kultur der Teilhabe und der Politisierung staatlicher Entscheidungsprozesse durchsetzen können, die auch spätere Auseinandersetzungen über das Waldsterben und den Klimawandel geprägt habe. Die Medienöffentlichkeit habe dabei als Forum der Problemkonstruktion besondere Bedeutung erlangt.
Auf der anderen Seite des Rheines habe dagegen ein staatszentriertes und als technokratisch geltendes Verständnis der kernenergiepolitischen Entscheidungsprozesse dominiert. Die Rolle der Medien sei dem staatlichen Handeln nachgeordnet geblieben, wenngleich sich auch in Frankreich mit der Kritik an der Informationspolitik zumindest der Anspruch auf Kommunikation als zentrales politisches Thema durchgesetzt habe.
Abschließend wird die Berichterstattung über die Tschernobyl-Debatte im jeweils anderen Land thematisiert. Im Fokus steht dabei der Streit um das im Dreiländereck Deutschland-Frankreich-Luxemburg erbaute Kernkraftwerk Cattenom, dessen erster Reaktor im November 1986 den Betrieb aufnehmen sollte. Dabei zeigt die Verfasserin, dass der Streit um dieses Kernkraftwerk insbesondere aufgrund der Medienberichterstattung die deutsch-französische Zusammenarbeit schwer belastete. Ungeachtet der grenzüberschreitenden zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit sowohl der Kernenergiekritiker als auch der Wirtschaft habe die mediale Berichterstattung die jeweils nationale Sichtweise unterstrichen und nur begrenzt zum Verständnis der Sicht des Nachbarn beigetragen. Hierdurch sei der Eindruck grundlegender Differenzen gestärkt worden.
Überdies verweist die Verfasserin auf die vielfältigen Asymmetrien in den politisch-administrativen Systemen, die – wie in vielen anderen Bereichen – auch auf dem Gebiet der Kerntechnik die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern erschwerten. Nicht zuletzt werden politische Faktoren angeführt, an erster Stelle der Dissens zwischen den linken Parteien beider Länder, insbesondere zwischen den französischen Sozialisten und den bundesdeutschen Sozialdemokraten. Diese Divergenzen betrafen nicht nur die zivile und militärische Kernenergienutzung, sondern auch den Streit um den NATO-Doppelbeschluss, der die 1980er-Jahre prägte und in dem von Staatspräsident François Mitterrand am 20. Januar 1983 im deutschen Bundestag abgegebenen Votum für die Durchsetzung dieses Beschlusses einen Höhepunkt fand.
Im Einklang mit der Verfasserin kann der übergreifende Wert dieser Untersuchung in drei Punkten zusammengefasst werden: Erstens wird die hohe Bedeutung der Medien für den deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich deutlich. Zweitens wird einmal mehr gezeigt, dass nicht Mentalitätsunterschiede, sondern die Einbindung der Akteure in nationale Strukturen und die daraus resultierende Handlungslogik die Kooperation im bilateralen Kontext erschwerten. Drittens wird am Beispiel des Verlaufs der Kernenergiedebatte in beiden Ländern deutlich gemacht, dass die medialen und politischen Diskurse insbesondere im linken politischen Lager im Verlauf der 1980er-Jahre nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede beider Gesellschaften herausgestellt und nichtzutreffende Wahrnehmungen eines die deutsch-französische Zusammenarbeit belastenden kulturellen Antagonismus gefördert haben.
Darüber hinaus hat Jordan quasi ein Kompendium der Kernenergiedebatte in Deutschland und Frankreich vorgelegt, dass sich durch detaillierte eigene Recherche, umfangreiches Quellenmaterial, die Durchführung von 19 leitfadengestützten Interviews mit Zeitzeugen und die nahezu als komplett zu bezeichnende Berücksichtigung des Forschungsstands auszeichnet. Neben der im höchsten Maße detaillierten – partiell etwas redundanten – Nachzeichnung der Auseinandersetzungen um die Kernenergienutzung in beiden Ländern bietet die Studie tiefe Einblicke in die politisch-administrativen Systeme und vor allem in die Medienstrukturen und die journalistische Praxis in beiden Ländern. Insgesamt sind diesem Buch, das neben seinem wissenschaftlichen Wert auch einen wichtigen Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung darstellt, viele Leserinnen und Leser und vielleicht auch ein Erscheinen in französischer Sprache zu wünschen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sabine von Oppeln, Rezension von/compte rendu de: Katrin Jordan, Ausgestrahlt. Die mediale Debatte um »Tschernobyl« in der Bundesrepublik und in Frankreich 1986/87, Göttingen (Wallstein) 2018, 424 S., 22 Abb. (Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, 10), ISBN 978-3-8353-3304-8, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73350