Anzuzeigen ist eine archivwissenschaftliche Studie. Die Verfasserin ist Professorin dieses Fachs an der Universität Laval in Quebec. Für ein geschichtswissenschaftliches Publikum sollte erläutert werden, dass in Kanada aufgrund der breiten Aufstellung des Fachs an den Universitäten eine der aktivsten archivwissenschaftlichen Forschungskulturen besteht. Einer ihrer wirkungsmächtigsten Vertreter war der 2014 verstorbene Terry Cook, der vor mehr als 30 Jahren erstmals Elemente des postmodernen philosophischen Konzepts des »Archivs« in den archivarischen Fachdiskurs übertragen hat.

Kleins Studie ist eine weit ausgreifende Auseinandersetzung mit der von Cook begründeten Strömung. Einen wesentlichen Teil nimmt die Darlegung der Positionen traditioneller und postmoderner Archivwissenschaft ein, die sich jeweils in Anlehnung an Strömungen in der (französischen) Historiographie entwickelt hätten. Traditionell sei die Vorstellung des abgeschlossenen, unveränderlichen und von der aktenproduzierenden Institution vorbestimmten Archivs. Daraus leiteten sich die Imperative ab, Provenienzen nicht zu vermischen, die vorgefundene Struktur zu respektieren und die Archivwürdigkeit von Akten an der Tätigkeit des Produzenten zu messen. Die Referenzen sind hier klassische Handbücher des niederländischen Trios Muller/Feith/Fruin, des Briten Sir Hilary Jenkinson und des US-Amerikaners Theodore R. Schellenberg.

Mit diesem Vorverständnis habe der Historismus, exemplifiziert an der École méthodique, Archivquellen als natürlichen und getreuen Spiegel der Vergangenheit betrachten können. Die Postmoderne, vertreten v. a. durch Aufsätze von Cook und dem Niederländer Eric Ketelaar, habe nicht mehr die Archivalien, sondern das Archiv an sich, verstanden als Mittler zwischen kollektivem Gedächtnis und Geschichtsschreibung, in den Mittelpunkt gestellt und folgerichtig den Akt der Archivierung als Nullpunkt der Geschichtserkenntnis identifiziert. Sie betrachte das Archiv als dynamisches Netz inhaltlicher Beziehungen, die sich weniger nach dem Produzenten (der Provenienz) als nach den dokumentierten gesellschaftlichen Kräften und Wirkungen richten. Sinn ergebe sich daraus erst in der subjektiven Konfiguration der das Archiv nutzenden Personen. Klein zieht hier Verbindungen zu den historiographischen Ansätzen der Annales.

Im zweiten Teil der Studie geht sie auf doppelte Weise dialektisch mit diesen Positionen um: Methodisch versucht sie eine Synthese, inhaltlich soll dies durch Konzepte des Dialektischen Materialismus in der Auslegung Walter Benjamins möglich werden. In einer sehr ausführlichen Auseinandersetzung mit Benjamin, Vertretern verwandter Denkstile und zeitgenössischen Künstlern, insbesondere Christian Boltanski, entwickelt Klein eine dialektische Ontologie des Archivs aus den drei nichtlinearen Zeitachsen der Produktion der Unterlagen, ihrer Archivierung und ihrer Nutzung, die die situative Begegnung mit der Vergangenheit ermöglichen sollen. Angesichts des argumentativen Aufwandes wirken die gezogenen Schlüsse in ihrer praktischen Bedeutung für Archive und Historiographie fast selbstverständlich.

Klein ist zuzustimmen, dass sich traditionelle und postmoderne Archivwissenschaft nicht ausschließen, aber die Postmoderne auf die vielen Fragen, die diese mit Recht aufgeworfen hat, etwa nach der Unvollständigkeit des Archivs und der keineswegs neutralen Rolle der Archivarinnen und Archivare, nicht immer befriedigende Antworten geliefert hat. Es scheint aber fraglich, ob der Dialektische oder Historische Materialismus (Klein differenziert die Begriffe nicht) die Basis für eine Lösung sein kann, insbesondere wenn dieser auf eine selektive und assoziative Rezeption Benjamins beschränkt wird.

Die Methode muss konsequent angewandt werden, angefangen bei den drei von Friedrich Engels formulierten Gesetzen, oder auf ihre Anwendung sollte verzichtet werden. Eine vollständige Betrachtung müsste dann auch die Erfahrungen der sowjetischen Archivwissenschaft berücksichtigen, die auf der Basis des DIAMAT bereits ein »Historisches Prinzip« gegen das Provenienzprinzip entwickelt hatte, das selbst intern nicht unumstritten war und in der DDR z. B. zugunsten traditioneller Auffassungen nicht rezipiert wurde. Fraglich ist auch das Beharren der Verfasserin auf der Materialität des Archivs angesichts der Fluidität elektronischer Aufzeichnungen und Archive, auf die einige postmoderne Konzepte tatsächlich gut anwendbar scheinen. Dass mittlerweile sogar Erschließungsstandards (»Records in Contexts«) darauf aufbauen, müsste problematisiert werden.

Dies sind eher Probleme der fachinternen Diskussion. Historikerinnen und Historikern eröffnet die Studie Einblicke in einen Diskurs, der sich von der früher selbstverständlichen Symbiose mit der eigenen Disziplin zunehmend entkoppelt. Wenn Klein fordert, die Nutzung als Teil des Archivs außerhalb seiner selbst für die Archivwissenschaft zu vereinnahmen, müssen sich die Fachwissenschaften fragen, welche zusätzlichen quellenkritischen Anforderungen sich aus einer solchen Entgrenzung des Archivs ergeben mögen.

Weil die Studie wie ein textbook für den akademischen Unterricht mit wörtlichen Zitaten aus der Literatur fast übersättigt ist, erlaubt sie, einen quellennahen Überblick maßgeblicher Konzepte und Traditionen zu erlangen, die die unsichtbaren Praktiken prägen, mit deren Auswirkungen Nutzerinnen und Nutzer im Lesesaal konfrontiert werden. Das Buch ist auch im Open Access als PDF erhältlich: https://www.pulaval.com/libre-acces/9782763746111.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Holger Berwinkel, Rezension von/compte rendu de: Anne Klein, Archive(s), mémoire, art. Éléments pour une archivistique critique, Québec (Presses de l’université Laval) 2019, 264 p., ISBN 978-2-7637-4611-1, CAD 30,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73351