Axel Schildt verwies bereits 2004 in einem wegweisenden Aufsatz auf die »konservative Tendenzwende« in den 1970er-Jahren und stellte fest, dass die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft noch weit davon entfernt sei, diese Dekade jenseits des Signums des »roten Jahrzehnts« (Gerd Koenen) mit dem Fokus auf konservative Perspektiven historisch in den Blick genommen zu haben1. Die »konservative Rekonstruktion« des Denkens der 1970er-Jahre stand bisher oftmals im Schatten der umfassenden Forschungen zur zunehmend kritisierten These der »Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) der bundesdeutschen Gesellschaft ab Ende der 1960er-Jahre.

Dass die unterschiedlichen linken Protestströmungen der 1960er-Jahre, die häufig unter der Chiffre »1968« zusammengefasst werden, seitdem als der Ursprung allen Übels in der nachfolgenden Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands gesehen werden, hat exemplarisch eindrucksvoll das Überblickswerk von Karlheinz Weißmann zum 50-jährigen Jubiläum des Jahres 1968 und seinen vermeintlichen Nachwirkungen gezeigt2.

Martin G. Maier hat sich in seiner mit über 800 Seiten langen Dissertation ausführlich dem »herausgeforderten Konservatismus« von 1968 bis zur Wiedervereinigung zur »Berliner Republik« gewidmet. Damit analysiert er anhand von Anpassungsprozessen verschiedener Strömungen des konservativen Denkens eben jenes von Axel Schildt umrissene Forschungsdesiderat, dessen nachhaltige Auswirkungen im aktuellen politischen Alltag in der Bundesrepublik Deutschland immer sichtbarer zu Tage treten. Das Buch ist in neun Kapitel und ein Resümee gegliedert und umfasst einen Zeitraum von 1969 bis 1994.

In der Einleitung, die mit 144 Seiten das längste Kapitel des Buches darstellt, beschreibt Maier umfangreich den inhaltlichen, theoretischen und methodischen Rahmen seiner Studie. Zu Beginn verdeutlicht der Autor, dass der Ansatz der Ideenforschung, wie er ihn vertritt, nur im Kontext der Verbalisierung von Auseinandersetzungen mit »konkreten Problemlagen, als Reprisen auf feindliches Gedankengut oder auch in Abgrenzung zu anderen politischen Theorien« zu fassen ist (S. 18). Maier formuliert die These, dass der Konservatismus immer nur anhand der Beziehungen heraus zu begreifen sei, die er zu anderen politischen Ideologien unterhalte (S. 19). Konservatismus unterteilt er in drei Dimensionen: die habituelle, die anthropologische und die ideengeschichtliche Dimension.

Sicherheit, Glück durch Bindung und Führung sowie die Verwirklichung sittlicher Werte stellen nach Maier die Grundpfeiler konservativen Denkens dar. Das darauf aufbauende, von Pierre Bourdieu »doxa« genannte Konzept von unhinterfragten und vermeintlich »wahren« Überzeugungen und Meinungen, bilde das Fundament des Konservativen, welches aus deren Sicht, ohne theoretische Begründung zu benötigen, Bestand habe. Der Konservatismus sei abhängig von einer periodisch beobachtbaren Situationsgebundenheit und trete immer erst dann zu Tage, wenn eine Bedrohung durch sozialen Wandel empfunden oder anderweitige Krisenperioden antizipiert werden (S. 25).

Die Revolte der Neuen Linken in den 1960er Jahren mit dem zentralen Kristallisationspunkt 1968 habe nach Maier den Konservatismus verschiedener Provenienzen mit einem »Amalgam aus liberalen und (neu)linken Einflüssen« herausgefordert und die »unangefochtenen Domänen« der konservativen »doxa« grundlegend in Frage gestellt (S. 28). Überzeugend baut der Autor nachfolgend seine Studie auf, um anhand verschiedener Stellungnahmen von Konservativen in ihrer Funktion als »public intellectuals« die Neukonfigurationen konservativen Denkens aufgrund der ständigen Einflüsse von linken und liberalen Intellektuellen auf die politische Kultur der Bundesrepublik nachzuzeichnen und zu analysieren.

Im Anschluss an eine Bestimmung der »Konstellationen um 1968« (Kap. 2) stellt Maier ausführlich die untersuchten konservativen Betätigungsfelder im Untersuchungszeitraum vor: Universität und Bildung, politische Unregierbarkeitsdiskurse, Streit um die Verfassung der Bundesrepublik, die Wehrhaftigkeit des Staates in Friedenszeiten gegen innere und äußere Feinde, der Streit um vergangenheitspolitische Fragen sowie die Ausprägung eines neurechten Konservatismus auf dem Weg in die »Berliner Republik« (Kap. 3–8). Die Bandbreite der Themenfelder zeigt nach Ansicht des Autors, wie erstaunlich vielfältig die thematischen Anlässe für Interventionen konservativer Intellektueller aufgrund der Ausprägung einer Gegenkultur durch die 1968 angetretenen Gegeneliten waren, die sich auf dem »Marsch durch die Institutionen« begeben hatten. Anhand der Auswertung von sieben Diskursmedien konservativen Denkens, u. a. »Zeitbühne«, »HPI – Hochschulpolitische Informationen«, »Konservativ heute« gelingt es Maier überzeugend, wenn auch sehr umfangreich und teilweise ausschweifend, zentrale konservative Anpassungs- und Aushandlungsprozesse in den beschriebenen Themenfeldern darzustellen. Die Infragestellung und langfristig der Verlust der eigenen »doxa« habe, so Maier, dazu geführt, dass die Zeit der Planbarkeit und Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland von konservativer Seite als unwiederbringlich verschwunden wahrgenommen wurde.

Die Rekonstruktion und Analyse der fortlaufenden Neukonfigurationen des Konservatismus in der Bundesrepublik Deutschland im Kontext der ausgewählten Themenfelder stellt die große Stärke der Studie dar. Teilweise ist die vorgestellte Vielfalt der Stellungnahmen der »public intelletctuals« im Zeitraum von 1969 bis 1994 fast zu umfangreich und besonders die überlangen und zum Teil ausladenden Satzstrukturen erschweren an einigen Stellen das Leseverständnis. Nichtsdestotrotz stellt die Studie von Martin G. Maier einen Gewinn für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Anpassungs- und Entwicklungsprozessen des Konservatismus in der Bundesrepublik Deutschland dar.

Das Buch bietet durch seine umfangreichen Analysen spannende Ansatzpunkte für weiterführende und methodisch ergänzende Studien zu diesem heute hochrelevanten Thema für die politische Kultur der Bundesrepublik. Der Konservatismus heutiger Ausprägung wirkt durch die Studie von Maier deutlich verständlicher. Allein diese Feststellung stellt, neben vielen anderen spannenden Ergebnissen, einen großen Verdienst des Buchs dar.

1 Axel Schildt, Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478, hier S. 478.
2 Karlheinz Weißmann, Kulturbruch ’68. Die linke Revolte und ihre Folgen, Berlin 2018.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Robert Wolff, Rezension von/compte rendu de: Martin G. Maier, Der herausgeforderte Konservatismus. Von 1968 bis zur Berliner Republik, Marburg (BdWi-Verlag) 2019, 802 S. (Reihe Hochschule, 12), ISBN 978-3-939864-26-4, EUR 34,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73355