Silvio Vietta, emeritierter Professor für europäische Literatur- und Kulturgeschichte, ist im Feld der kulturgeschichtlichen Europäisitik im engeren theoretischen Sinne, aber auch in der Geschichte Europas im weiteren, ein ausgewiesener Experte. So legte Vietta bereits vor einiger Zeit eine weithin beachtete kulturgeschichtliche Einführung zu Europa vor, die ihren großen Wert vor allem aus der literaturwissenschaftlichen Expertise des Autors zog1. Sein jüngstes monografisches Werk trägt den Titel »Europas Werte. Geschichte – Konflikte – Perspektiven«. Damit betritt der Verfasser eine Diskussionsarena, die gerade in der aktuellen Zeitgeschichte EU-europäischer Polykrisen von immenser diskursiver Aufgeladenheit geprägt ist.

Jedes wissenschaftliche Werk muss sich hier an dem Anspruch messen lassen, wie sehr es auch für Orientierung durch klare wissenschaftliche Analysen und -schlüsse sorgen kann. So stellt der Autor an sich dann auch nichts weniger als den hohen Anspruch, eine Monografie geschrieben zu haben, die das »Panorama der europäischen Werte aufblättert« (S. 42). Schon hieraus lässt sich eine in der Forschung nicht unumstrittene Positionierung des Autors erkennen; diese besteht für Vietta offensichtlich darin, dass, erstens, die europäischen Werte recht klar bestimmbar seien; und, dass diese, zweiten, ein gemeinsames »Panorama« stiften würden. Man tut dem Werk wohl keine Gewalt an, wenn man »Panorama« in diesem Kontext im Sinne der Bedeutung des hochaktuellen Begriffs des »Narrativs« liest.

Silvio Vietta hat sein knapp vierhundert Seiten umfassendes Buch zur Geschichte der Wertelandschaft Europas in drei Hauptteile gegliedert. Auf die Einleitung (S. 11–42) folgt der erste zu Werten der »Rationalitätskultur« (S. 45–235) sowie ein zweiter zu Religion und Natur (S. 239–309). Wiederum ein im Vergleich zum ersten kürzerer Abschnitt zum Patriotismus (S. 313–356) schließt den Band ab. Bereits aus der Gliederung des Werkes wird also wieder die Positionierung des Autors in Hinsicht auf die Wichtigkeit und das Verhältnis dieser Wertegruppe zueinander verdeutlicht.

Es ist diese ebenso subjektive Positionierung (die durchaus an vielen Stellen methodisch berechtigt auswählend vorgeht), die dann an zahlreichen Stellen des Buches kritisch zu betrachtende Schlüsse und Darstellungen zur Folgen hat – nämlich kritisch im in dem Sinne, dass eine Auswahl unter mehreren möglichen wissenschaftlichen Ergebnissen gezogen wird. Diese Auswahl lässt sich oft deutlich auch auf den subjektiven Standpunkt des Autors im Wertekanon zurückführen. Es ist daher also doch auch ein sehr persönliches Buch des Studienverfassers. Dieser jedoch nennt seinen Ausgangspunkt in diesem »Panorama« nicht explizit und transparent. Dieser Aspekt führt – wie zu zeigen ist – dazu, dass der Leserschaft hier mehr Transparenz zu wünschen gewesen wäre, um die Orientierungsfunktion des Bandes vollumfänglich einzulösen. Gerade im Ausblick (S. 359–366) hätte dies eine einordnende Funktion im Lesen des Buches ermöglicht.

Ausgesprochen positiv wirkt sich auf die Lesbarkeit des Buches der Umstand aus, dass bereits die Einleitung recht detailliert das Programm der Studie entfaltet sowie, dass jedem Abschnitt eine Überblick gebende Zusammenfassung vorangestellt wurde. Im Detail diskutiert der Hildesheimer Forscher im ersten Abschnitt »Werte der europäischen Rationalitätskultur«. Zu diesen zählen aus seiner Sicht das eigenständige Denken, Wahrheit, Kritik und Kritikfähigkeit, Demokratie und Toleranz, Freiheit, Individualität, Bildung, Rechtssicherheit, Wehrhaftigkeit und Technizität.

Vergleicht man diese Wertegruppe mit ihren zehn Eckpfeilern mit jenen des zweiten Hauptabschnittes zu Religion – mit den Werten Religiosität als Grundwert, Religionskritik, Christentum und Naturrecht – wird augenscheinlich, worin für Vietta der Hauptfokus des Europäischen liegt. Ebenso in Relation zu den „patriotischen Werten“, die mit Patriotismus, Muttersprache, Heimat, und Vaterland bzw. Nation angegeben werden. Das Verhältnis dieser Gruppen zueinander beschreibt der Verfasser in seinem Ausblick optimal wenn sie in einer ausgeglichenen Balance (S. 364) stünden, was ihn zum Plädoyer für einen europäischen »Werte-Patriotismus« führt (S. 365).

Dieser »Werte-Patriotismus«, den Silvio Vietta empfiehlt und der am Ende als Bilanz seines Narrativs europäischer Wertegeschichte seit der Antike steht, ist nachvollziehbar aus der unbestreitbaren tiefen Expertise des Verfassers für die Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte gewonnen. Wie sich jedoch gerade an der Diskussion des Konzepts der Nation anhand von Eric Hobsbawms Nationalismustheorie (S. 343) zeigt, in der Vietta den so wichtigen imaginativen und konstruktivistischen Impuls dieser Hauptforschung förmlich zur Seite fallen lässt, erweckt dies nicht den Eindruck von Essentialismus, aber doch der persönlichen Auswahl anhand von erkenntnisanleitenden Positionierungen des Autors. Diese Kohärenzen und Transparenzen auch der Leserschaft nicht deutlicher nachvollziehbar gemacht zu machen, ist der Kritikpunkt an einem detailreichen und lesenswerten Beitrag zur Wertegeschichte Europas.

1 Vgl. Silvio Vietta, Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung. Erweiterte Studienausgabe. München 2017.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Pichler, Rezension von/compte rendu de: Silvio Vietta, Europas Werte. Geschichte – Konflikte – Perspektiven, Freiburg i. Br., München (Karl Alber), 395 S., ISBN 978-3-495-49076-1, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73368