»Die Literatur zum Nationalismus ist nicht mehr überschaubar«1. Diesen Befund stellt Jürgen Osterhammel in einer Fußnote seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bedarf es also überhaupt noch weiterer Fallstudien zu spezifischen Nationalismen, Nations- und Nationalstaatskonstruktionen? Francesca Zantedeschi stellt sich zu Beginn ihrer Arbeit über nationale und regionale Identitätsbildung durch Archäologie und Philologie im Roussillon des 19. Jahrhunderts implizit dieser Frage.
Die am European University Institute in Florenz sowie an der Universität Pompeu Fabre in Barcelona promovierte Historikerin liefert eine Reihe an Begründungen für ihre Studie: Erst seit kurzem beachte die Forschung auch die »cultural agenda« (S. 3) des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Das mag man angesichts einer ganzen Reihe von Arbeiten zur nationalen Aufladung kultureller Institutionen im 19. Jahrhundert bezweifeln. Ein deutlich stärkeres Argument liefert Zantedeschi mit Verweis auf das komplexe Verhältnis von nationalem und regionalem Bewusstsein in einer Grenzregion als geradezu paradigmatischem Fall einer transnationalen Geschichtsschreibung. Womit die dritte Begründung der Arbeit schon gestreift wäre: Der Mangel an einer umfassenden Studie zur katalanischen Identitätsbildung im Roussillon, die diese nicht einfach wie bisher am katalanischen Nationalismus auf der anderen Seite der Pyrenäen misst und damit als gescheitert abtut.
Die Studie ist in drei Teile mit jeweils zwei bis drei Kapiteln gegliedert. Der erste Teil der Arbeit widmet sich dem französischen kulturpolitischen Kontext vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem archäologische Untersuchungen im Roussillon standen. Zantedeschi zeigt in gelungener Weise, wie gerade die zentralistisch geförderte Untersuchung der monuments nationaux in peripheren Regionen ein Bewusstsein für kulturelle Eigenheiten stärkte. Zantedeschi rekonstruiert mithilfe von Quellen aus den Archives départementales des Pyrénées-Orientales, wie sich während der Restauration um den Ingenieur und Beamten François Jaubert de Passa ein Korrespondentennetzwerk entwickelte, das sich mit den Altertümern des Roussillon befasste.
Mit der Entdeckung der Romanik als eigenem kunstgeschichtlichen Stil erhielten diese Bemühungen Auftrieb und wurden spätestens in der Julimonarchie von Innen- und Bildungsministerium gefördert; zum Vorschein kamen dabei freilich vor allem die archäologischen und kunsthistorischen Besonderheiten einer Region, die erst seit dem Pyrenäenfrieden von 1659 zu Frankreich gehörte. Die kulturpolitisch geförderte Suche nach einer nationalen Vergangenheit machte eine Geschichte sichtbar, die mit den nationalen Erzählungen eines Augustin Thierry oder eines Hyppolite Taine wenig gemeinsam hatten.
Im zweiten Teil, der den Titel »Language« trägt, beschäftigt sich Zantedeschi mit der philologischen Vermessung des Okzitanischen und des Katalanischen. Zurecht betont die Autorin, dass die sprachpolitischen Initiativen etwa des Abbé Grégoire in der Französischen Revolution nicht mit dem Versuch sprachlicher Homogenisierung gleichzusetzen sind, sondern durch Untersuchungen und Berichte überhaupt erst ein Bewusstsein für die linguistische Vielfalt innerhalb der französischen Grenzen schufen. Daran knüpften die frühe Romanistik mit der Wiederentdeckung der Troubadourdichtung, aber auch regionale Kulturbewegungen im Languedoc an. Dabei wird deutlich, wie der durch Zeitschriften und gelehrte Gesellschaften, aber auch durch das literarische Schaffen etwa eines Frédéric Mistral geschärfte Fokus auf das Okzitanische zumindest in Frankreich nur wenig Raum für eine Wiederentdeckung des im Roussillon gesprochenen Katalanischen ließ.
Daran knüpft der dritte Teil der Arbeit an. Zantedeschi betrachtet hier die Wiederentdeckung des Katalanischen in der zweiten Jahrhunderthälfte und untersucht diese Bewegung im transnationalen Kontext des französischen Nationalstaats, des katalanischen Nationalismus in Spanien und der weit weniger politisch gefärbten Renaissance des Okzitanischen im Languedoc. Hier kommt die Autorin ihrem Ziel einer transnationalen Geschichte von nationalen und regionalen Identitäten am nächsten. Zu den untersuchten Fallbeispielen zählen die Feier zur katalanisch-okzitanischen Freundschaft in Banyuls-sur-Mer 1882, die Rolle von Geistlichen als Verfechter des Katalanischen als Reaktion auf den Antiklerikalismus der Dritten Republik, vor allem aber der über die Pyrenäen hinweg ausgetragene Streit über die linguistische Vereinheitlichung des Katalanischen.
Anhand der prekären Stellung zwischen antispanischem katalanischem Nationalismus und weitgehend unpolitischem okzitanischem Regionalismus arbeitet Zantedeschi schließlich heraus, wieso die sogenannte »renaixença rossellonesa«, die breitenwirksame Herausbildung einer regionalen Identität des Roussillon, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fuß fassen konnte.
Zantedeschis Arbeit liefert zahlreiche detaillierte Auskünfte über Kultur- und Sprachpolitik in einer Grenzregion. Insbesondere die Kombination transnationaler und komparativer Perspektiven erscheint gelungen, vor allem im letzten Drittel der Arbeit. Erst der Blick auf die Iberische Halbinsel erlaubt es, die Konstruktion einander überkreuzender staatlicher und kultureller Grenzziehungen in Südfrankreich adäquat in den Blick zu bekommen. Daraus ergeben sich für Zantedeschi freilich Schlüsse über die – vor allem staatlichen – Grenzen der Verflechtung: »Accordingly, Occitan and Catalan linguistic claims and political activities were much more influenced by what happened within their respective States [sic!] rather than any airy-fairy common project« (S. 226).
Jedoch sorgt die Verbindung unterschiedlicher räumlicher Ebenen an einigen Stellen für einen Verlust an analytischem Fokus. Denn es bleibt schleierhaft, was die Arbeit erklären soll. Handelt es sich um eine Studie zum widersprüchlichen Verhältnis von Nationalstaat und Region, wie vor allem der erste Teil, aber auch weite Strecken des dritten Teils suggerieren? Handelt es sich um eine Studie zu den nichtnationalstaatlichen Wurzeln von Disziplinen wie Archäologie und Romanistik? Oder liegt nicht vielmehr eine Würdigung des Schaffens einzelner lokaler Archäologen, Sprachforscher und Dichter vor?
Nicht selten erweckt die Studie letzteren Eindruck, vor allem dann, wenn Gliederungspunkte einzelnen Archäologen, Sprachforschern und Dichtern gewidmet sind – und diese biografischen Portraits wiederum den einzigen Gliederungsabschnitt des jeweiligen Unterkapitels darstellen (etwa: 6.2 »Vernacular Language as a Religious Rampart« mit dem einzigen untergeordneten Abschnitt »2.1 Abbé Joseph Santol«). Trotz der vor allem im ersten Teil und einigen Kapiteln des dritten Teils der Arbeit gezogenen spannenden Schlüsse zur Dialektik einer nationalen Kulturpolitik, die überhaupt erst die Initiative zu Geschichtskonstruktionen unterhalb des Nationalstaats gab, erfüllt Zantedeschis Arbeit somit vor allem ein wortwörtlich antiquarisches Desiderat.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Konrad Hauber, Rezension von/compte rendu de: Francesca Zantedeschi, The Antiquarians of the Nation. Monuments and Language in Nineteenth-Century Roussillon, Leiden, Boston (Brill Academic Publishers) 2019, XII–312 p., 17 b/w fig. (National Cultivation of Culture, 16), ISBN 978-90-04-36896-5, EUR 119,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73370