Nicht zuletzt durch die 2019 ausgestrahlte zweite Staffel der Fernsehserie zur Geschichte der Charité wurde die Geschichte der Berliner Klinik in der nationalsozialistischen Diktatur beleuchtet und auch das schillernde Arrangement Ferdinand Sauerbruchs mit dem Hitler-Regime rückte wieder in den Blickpunkt der Diskussion. Die Serie erinnerte ferner an den weitgehend nur der historischen Fachwelt bekannten Spion Fritz Kolbe, der als enger Mitarbeiter Karl Ritters zahllose Unterlagen aus dem Auswärtigen Amt dem amerikanischen Geheimdienst zuspielte.

Neben seiner als Sekretärin Sauerbruchs tätigen Verlobten war ihm bei diesen Unternehmungen der aus Straßburg stammende Chirurg Adolphe Michel Jung behilflich, dem der als Archivar der Universität des Saarlandes tätige Rezensent bereits 20031 eine kleinere und dann 20102 eine umfangreichere biografische Skizze gewidmet hat und dabei dank des Entgegenkommens der Familie erstmals die seinerzeit nur im Privatdruck verfügbaren Berliner Erinnerungen »Un chirurgien dans la tourmente« auswerten konnte. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass die Juniorprofessorin für Medical Humanities und Medizinethik an der Charité, Susanne Michl, als Herausgeberin und der ebenfalls an der Charité tätige stellvertretende Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Thomas Beddies, und der an der Université de Strasbourg als Professor for History of Science tätige Christian Bonah als Herausgeber in Zusammenarbeit mit der Familie nun diese Aufzeichnungen in deutscher Sprache in Buchform vorlegen.

Dem Vorwort des Sohnes Dr. Frank Jung (S. 7–10) folgt eine mit Fotos und Dokumenten angereicherte Einführung der Herausgeber, die auch Jungs Biografie, seine Orientierung nach Frankreich, seine schwierige Position nach der Besetzung des Elsass zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, die in der NS-Perspektive »nicht günstige Einstellung zum Deutschtum« (S. 23), seine Ablehnung einer Position an der neuen Reichsuniversität Straßburg3 und seine »Zwangsversetzung« zunächst nach Überlingen und Pfullendorf und schließlich an die Charité skizziert. Dabei wären manche Entscheidungsprozesse und Handlungsoptionen zwischen vermeintlicher Anpassung und kritischer Distanz noch weiter zu klären, etwa wie intensiv sich die schon in der Vorkriegszeit bestehenden Beziehungen zwischen Jung und Sauerbruch entwickelten (so erinnerte ihn beispielsweise Maximilian de Crinis im Mai 1941 in einer persönlichen Korrespondenz an den Austausch über die Sympaticus-Chirurgie und lud ihn zu einem erneuten Besuch in Berlin ein), oder warum er – wohl aus Rücksicht auf seine Familie – 1941 den Wechsel an die Charité ablehnte.

Unerachtet der facettenreichen Informationen und der beeindruckend dichten Beschreibung des Charité-Alltags stellt sich auch die quellenkritische Frage, wann, mit welchen Entstehungsstufen und eventuellen Überarbeitungen und unter welchen Vorzeichen das in französischer Sprache nach dem Tod vorgefundene Manuskript entstand, zumal Tagebuch-Notizen und längeren, wohl direkt notierten wörtlichen Gesprächswiedergaben im Präsens oft direkt anschließend Aufzeichnungen im Imperfekt folgen. Ohnehin sieht der Autor die vermutlich in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Zeichen des Verfahrens vor der Sous-commission d’Épuration de l’Enseignement supérieur dans le Bas-Rhin und der Anfeindung wegen vermeintlich prodeutscher und pronazistischer Haltung entstandenen Aufzeichnungen auch als »Rechtfertigung meiner eigenen Handlungen« an sowie als Beweis, dass er sich »gezwungenermaßen« nach Berlin begeben hatte: »Denn es wäre für mich nicht hinnehmbar, würde jemals behauptet werden, dass sich ein Elsässer, ein französischer außerordentlicher Professor, mitten im Krieg freiwillig in Feindesland begeben hätte. Die grausamsten Umstände trieben mich dorthin. Ich war gezwungen, allein in einem feindlichen Land zu bleiben, und ich habe nicht einen einzigen Augenblick mein Vaterland verraten und stets so gehandelt, wie es mir mein Gewissen als französischer Universitätsangehöriger vorgab« (S. 43–44).

Nach einer kurzen Schilderung seiner komplexen Straßburger Situation nach der deutschen Besetzung beschreibt Jung seine Dienstverpflichtung ins badische Pfullendorf (wo ihm ein Student die Hinrichtung eines polnischen Kriegsgefangenen wegen einer Beziehung zu einer deutschen, dann durch das Dorf getriebenen und kahl geschorenen Bauerntochter schilderte) und nach Überlingen, die dann nach einem persönlichen Gespräch zwischen Sauerbruch und Jung »für Berlin umgewandelt« wurde (S. 50).

So kam Jung im Oktober 1942 an die Charité und konnte – wohl aufgrund seiner engen Beziehung zu Sauerbruch, der ihn im März 1943 durch seine Intervention auch vor einer Einberufung als Arzt in ein Gendarmeriekorps im besetzten Polen bewahrte – interessanterweise umgehend eine keineswegs mediokre Aufgabe übernehmen, die Betreuung von dessen Privatpatienten. Ausführlich beschreibt er die Lage der Charité als »regelrechte kleine Stadt in sich im Zentrum der Hauptstadt« (S. 57), die Operationsvorbereitungen und -verläufe, den Operationsbunker, das medizinische Personal und die durch pragmatisches Handeln, rasche Entscheidungen und verblüffende Intuition beeindruckende Persönlichkeit Sauerbruchs und dessen politische Ansichten etwa zum deutschen Weg von Luther über Bismarck zu Hitler. Auch wenn Sauerbruch die Schweiz aufgrund seiner Züricher Erfahrungen schätzte, so verhehlte er seine Ablehnung des Versailler Vertrages nicht, »blieb stets durch und durch Deutscher«, »regelrechter Pangermanist, der immer und in erster Linie seinem Land diente« (S. 70), »zutiefst nationalistisch« sowie geprägt durch eine »Fähigkeit zur Verschleierung und Geheimniskrämerei« (S. 71), gelegentlich zum Schutz vom Regime verfolgter – auch jüdischer – Patienten. Außerdem berichtet Jung von Besuchen in der Sauerbruch-Villa, den Begegnungen mit der NS-kritischen zweiten Ehefrau Sauerbruchs und Gesprächen mit Repräsentanten des Freundeskreises und der »Mittwoch-Gesellschaft« wie Generaloberst Ludwig Beck, Staatssekretär Erwin Planck oder dem preußischen Finanzminister Johannes Popitz, die alle nach dem 20. Juli 1944, in den auch Sauerbruchs Sohn involviert war, ihre Gegnerschaft zur NS-Diktatur mit dem Leben bezahlten.

Im Zentrum der mit vielfältigen Details und Hintergrundwissen angereicherten Aufzeichnungen stehen die Reflexionen über den Alltag in der Charité, die Begegnungen mit den verschiedensten Patienten und Personen in unterschiedlichen Positionen einschließlich der Kontakte zu französischen Kriegsgefangenen; die Berichte über die zahllosen Bombennächte, die zunehmenden Zerstörungen und die Reaktionen der Bevölkerung; aber auch die Hinweise auf nationalsozialistische Medizinverbrechen und Hinrichtungen in den Konzentrationslagern; die mit Sauerbruch durchgeführte Operation Max Plancks in Amorbach um Pfingsten 1944; und die sich durch den fortdauernden Bombenkrieg, die Landung der Alliierten in der Normandie und die Zertrümmerung der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront abzeichnende politische, militärische und moralische Niederlage Hitler-Deutschlands. Breiten Raum nimmt der sinnlose Endkampf um Berlin ein, als sich im Zeichen des sowjetischen Vormarsches und der andauernden Luftangriffe der Alltag auf den Operationsbunker konzentriert, wo Sauerbruch und Jung unermüdlich Verwundete versorgen – auch über den 1. Mai hinaus, den Tag der Besetzung der Charité durch russische Truppen. Als aufmerksamer Zeitzeuge beschreibt Jung die durch Plünderungen und Vergewaltigungen geprägten ersten Tage der Besatzung, bis er unter schwierigen Umständen und ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben Sauerbruchs den langen Heimweg ins Elsass antreten kann und Ende Mai 1945 seine Heimatstadt erreicht.

Die zeitgeschichtlich informative, wie alle autobiographischen Schriften auch subjektiv geprägte Publikation, die der schillernden Persönlichkeit Sauerbruchs breiten Raum einräumt, runden zwei Anhänge ab: In »Zwischen den Fronten« berichtet Jung über seine möglicherweise noch detaillierter zu kommentierende Zusammenarbeit mit Fritz Kolbe und wie er selbst Nachrichten an die Alliierten und die Résistance weiterleitete. Außerdem wird die »Verteidigungsschrift« vor der Säuberungskommission abgedruckt, wobei eine gleichzeitige Präsentation der wohl Kollaborationsvorwürfe enthaltenden »Anklage« quellenkritisch bereichernd gewesen wäre.

1 Die Beschäftigung mit Jungs Karriere ergab sich aus der Tatsache, dass er zwischen 1954 und 1957 die Chirurgische Universitätsklinik an der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes leitete und vom 1. Oktober 1956 bis zum 30. September 1957 als (erster französischer) Prorektor der Universität des Saarlandes agierte. Wolfgang Müller, »Dem verdienten Verständnis begegnen [...] auf diesem Gebiet der kulturellen Beziehungen«. Impressionen zu Verbindungen der Universität des Saarlandes zur Universität Strasbourg und zum Elsaß, in: Dominique Dinet, François Igersheim (Hg.), Terres d’Alsace, Chemins de l’Europe. Mélanges offerts à Bernard Vogler, Straßburg 2003, S. 447–471, darin: »Un des meilleurs Répresentants de l’enseignement supérieur français à l’Université de la Sarre - Der Chirurg Adolphe Michel Jung« (S. 459–462).
2 Wolfgang Müller, Le Professeur Adolphe Michel Jung (1902–1992). La vie mouvementée d’un chirurgien strasbourgeois, in: Annuaire de la Société des Amis du Vieux Strasbourg 35 (2010), S. 137–147, übersetzt von Petra Roscheck.
3 Vgl. dazu ausführlich die umfangreiche Saarbrücker Habilitationsschrift Rainer Möhler, Die Reichsuniversität Straßburg 1940–1944. Eine nationalsozialistische Musteruniversität zwischen Wissenschaft, Volkstumspolitik und Verbrechen, Stuttgart 2020 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen, 227).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang Müller, Rezension von/compte rendu de: Susanne Michl, Thomas Beddies, Christian Bonah (Hg.), Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung, 1940–1945, Basel (Schwabe Verlag) 2019, 221 S., 31 s/w Abb., ISBN 978-3-7574-0026-2, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73564