Der Verfasser widmet sich der Dekonstruktion der »mächtige[n] Vorstellung des historischen Archivs« als »Beziehung zwischen Archiven und historischem Wissen […], die so nicht vorausgesetzt werden« könne (S. 25). Die Idee des Archivs als Grundlage der Geschichtswissenschaft habe erst in einer langen und zähen Auseinandersetzung einzelner Forscher mit der Tradition staatlicher Geheimhaltung um den Zugang zu den Archiven Gestalt angenommen. Dieser Aushandlungsprozess wird anhand archivalisch dokumentierter Archivbenutzungen des frühen 19. Jahrhunderts in den Zentralarchiven Preußens und Bayerns nachvollzogen.

Im Anschluss an Markus Friedrichs bahnbrechende Studie »Geburt des Archivs« (2013) zeigt Müller, wie die Regierungen ihre Zentralarchive noch im frühen 19. Jahrhundert als arkane Archivschätze betrachteten, die vor allem als Nachweisinstrument für juristische und politische Ansprüche zu dienen hatten. Dies betraf auch die Archivbestände der nach den napoleonischen Umwälzungen einverleibten Territorien, die archivisch verarbeitet werden mussten. Dieser quantitative Druck kreuzte sich mit wachsendem Interesse von Forschern an der vornapoleonischen Epoche, die aus diplomatischer, dynastischer oder fiskalischer Sicht des Staates aber nicht abgeschlossen, sondern immer noch sensibel war. In diesem Spannungsfeld setzt die Studie mit einer Zustandsbeschreibung des Geheimen Staatsarchivs in Berlin ein: Bestände, Unterbringung, Geschäftsgang und Personal sowie Reform- und Zentralisierungspläne, die in Preußen weniger, in Bayern mehr Erfolg hatten, werden detailliert vor Augen geführt.

Nicht alles ist für die Argumentation signifikant, auch tritt die Auseinandersetzung mit der gerade für dieses Archiv reichhaltigen institutionengeschichtlichen Literatur zugunsten der intensiven Quellenarbeit des Verfassers eher zurück. Insgesamt wird jedoch deutlich, dass die historische Forschung im von Juristen geführten Archiv vor allem als Störung des Betriebsfriedens aufgefasst wurde. Überzeugend ist die Neubewertung des Pertinenzprinzips, also der sachthematischen Ordnung der Bestände, als Ordnungsprinzip, das der arkanpolitischen Zielsetzung am besten entsprach (S. 64). Dabei vermeidet es Müller sorgsam, das Archiv ausschließlich als staatliches Machtinstrument zu sehen, da durch die Verfügung über Rechtstitel zu Gunsten oder Lasten Dritter dem Staat auch die Verantwortung zukam, diese der Rechtswahrung im Land zur Verfügung zu stellen.

Hier bot sich ein Ansatzpunkt für die Forderung nach der Öffnung der Archive, die das Hauptthema des Buches ist. Müller untersucht sie anhand des Niederschlags im Medium der Supplik und der darauf bezogenen aktenmäßigen Entscheidungsprozesse der staatlichen Stellen. Die Quellenlage ist problematisch, da die Benutzungsakten der Archive in Berlin und München weitgehend zu Kriegsverlust wurden. Als Ersatzüberlieferung wurden die Akten der Aufsicht führenden Ministerien herangezogen, deren Perspektive auf die politischen Aspekte von Benutzungsanträgen fokussiert ist und diese überbetonen mag.

Dennoch werden überzeugend die komplexen Strategien und Gesten des Erbittens und der Selbstempfehlung der Interessenten wie auch die Motive und Verfahren der Beamten offengelegt. Die Autopsie typischer Vorgänge, wie etwa in der Praxis Akten zensiert wurden, ist eine faszinierende Lektüre. Es wird klar, dass die Zulassung historischer Archivbenutzung die restriktive Zugangspolitik nicht aufhob, sondern diese mit bewährten Kontrollpraktiken in einer neuen Dimension fortführte. Man mag aber die spezifische Bedeutung des Mediums Supplik für die »administrativ regulierte scientifische Ausbeutung des Archivschatzes« (S. 164) angesichts seiner Alltäglichkeit stark akzentuiert finden.

Müller betrachtet besonders die bayerischen Verhältnisse, die von einer offeneren und sachverständigeren Haltung als in Preußen geprägt waren: Das Ministerium hielt sich öfter zurück, und die Auslagerung der sensiblen diplomatischen und dynastischen Archivalien in Spezialarchive ermöglichte es, den Zugang zum Allgemeinen Reichsarchiv relativ liberal auszugestalten – womit dem seit 1812 angerichteten und erst in den 1970er-Jahren bereinigten bayerischen Beständechaos auch einmal eine gute Seite abgewonnen ist.

Man könnte noch weitere spezifisch bayerische Faktoren anführen, insbesondere die theoretische Unterscheidung archivalischer und nichtarchivalischer Akten von unterschiedlichem juristischem Wert und die sehr früh – 1821, im Gründungsjahr der École nationale des chartes – begonnene fachspezifische Ausbildung von Archivpersonal, die nur gestreift wird. Dabei weist Müller mit vollem Recht auf die Bedeutung der Archivare als Türöffner für die Forschung hin, wenn sie selbst wissenschaftlich tätig waren und, gestützt auf das Insider-Wissen um die verborgenen Bestände, als Antragsteller in einer privilegierten Position waren.

Sein strukturgeschichtlicher Zugang bringt es allerdings mit sich, dass zentrale Agenten des Wandels der Institutionenkultur wie der schillernde Joseph von Hormayr, der in Österreich und Bayern abwechselnd als Benutzer, Archivar und Aufsichtsbeamter gewirkt hat, immer nur in Ausschnitten erkennbar werden. Die gewählte Perspektive verschafft jedoch interessante Einsichten in die Selbststilisierung der Benutzer gegenüber den Archiven und untereinander; hierfür wurde Gelehrtenkorrespondenz ausgewertet.

Ein Kabinettstück der Studie ist die Rekonstruktion von Johann David Preuß’ Ringen um ungehinderten Zugang zum Geheimen Staatsarchiv für die Herausgabe der Werke Friedrichs des Großen (S. 319–370), aus der sich, flankiert durch die Berliner Akademie, der Anspruch der historischen Forschung auf eine vollständige und nachprüfbare Materialbasis herausbildete. Mit der Formulierung solcher Maßstäbe schließt der betrachtete Prozess der Anverwandlung des juristischen Beweiswertes eines »rechtspolitisch« determinierten Geheimarchivs zu genuin historischen Kriterien ab. In einer eleganten Auseinandersetzung mit Foucaults Archivbegriff kann Müller schließlich das reale Archiv als Beglaubigung des historisch Sagbaren verorten (S. 384).

Dies gelingt ungeachtet einer wenig konturierten Verwendung von Leitbegriffen wie »rechtspolitisch« oder »arcana imperii« – letzteres wird ungrammatisch als Femininum im Singular benutzt.

Insgesamt hat Müller den »Archivschatz« der Benutzungssuppliken als wissenschaftsgeschichtliche Quelle gehoben, die Ideengeschichte des »historischen« Archivs auf eine fundierte Grundlage gestellt und greifbar gemacht, wie das Archiv zum autoritativen epistemischen Ding der Historik und zum Argument im Konkurrenzkampf der damaligen Forscher wurde.

Die Studie besticht durch ihre Stringenz, die sie freilich auch dem Zuschnitt auf die Zentralarchive verdankt, in denen die politisch sensiblen Bestände konzentriert waren. Es ist signifikant, dass Müller dem Runderlass Hardenbergs über die Öffnung der preußischen Provinzialarchive keine besondere Bedeutung zumisst (S. 149). Die Einbeziehung dieser für die Landesgeschichte zentralen Archive, deren Gründung eine Antwort auf die Archivaliengewinne seit 1803 war und die unter den Oberpräsidenten mediatisiert waren, könnte das Bild weiter nuancieren.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Holger Berwinkel, Rezension von/compte rendu de: Philipp Müller (Hg.), Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive, Göttingen (Wallstein) 2019, 517 S., ISBN 978-3-8353-3599-8, EUR 44,90., in: Francia-Recensio 2020/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.2.73567