»Actes du séminaire« sind eine gängige Publikationsform in der französischen Forschungslandschaft, die auswärtigen Lesern oft verschlossen bleibt. Ist man beim Ausrichten von Tagungen mittlerweile fast durchgängig um Internationalität bemüht, so pflegen Seminare, noch dazu in der Provinz gehaltene, gern das innerfranzösische Selbstgespräch. Das allein muss inhaltlich kein Nachteil sein, zumal wenn sich, wie im Forschungsseminar von Anne de Mathan an der Université de Bretagne, zahlreiche der gegenwärtig einflussreichen Vertreter der Revolutionsforschung die Klinke in die Hand gaben, um über die nachträgliche Verarbeitung der Französischen Revolution zu diskutieren. Durch die Beiträge von Alexandre Tchoudinov, Antonio De Francesco und Jean-Numa Ducange kamen auch russische, italienisch und deutsche Blickwinkel zur Sprache. Einige Beiträge legten passend zum Ort des Seminars zudem einen regionalen Schwerpunkt auf die nördlichen Departements.
Der Band gliedert sich in drei Teile, wobei zu vermuten ist, dass diese Anordnung den zeitlichen Verlauf des Seminars abbildet. Teil 1 vermisst die theoretischen Grundlagen der Gedächtnisgeschichte in den Sozialwissenschaften und umkreist, erwartbar, die Säulenheiligen Maurice Halbwachs, Pierre Nora und Paul Ricœur. Teil 2 klopft die Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution auf ihre erinnerungspolitischen Implikationen ab. Teil 3 erschließt das Themenfeld von Gedächtnis und Erinnerung exemplarisch auf individueller und kollektiver Ebene, wobei die behandelten Quellen von Ego-Dokumenten aus der Revolutionszeit über Gemälde und Denkmäler des 19. Jahrhunderts bis hin zur Untergrundpresse der Résistance in den 1940er Jahren reichen.
Bei einem Durchlauf im Forschungsseminar von dreißig Vortragenden innerhalb von zwei Jahren liegt es nahe, dass sich die Aufsätze der Erklärungskraft und der Qualität der Darlegung nach unterscheiden. Einige trouvailles sind zu verzeichnen, und zwar vor allem dort, wo der Zeitraum der Untersuchung bis in die Gegenwart reicht. Paul Chopelin nimmt das negative Bild der Französischen Revolution aufs Korn, das sich seit der Zweihundertjahrfeier der französischen Revolution (bicentenaire) in katholischen Kreisen um Philippe de Villiers und seinen Freizeitpark Puy-du-Fou in der Vendée verfestigte und bis in die Grabenkämpfe der »manifs de tous« der 2010er Jahre hinein nachwirkt.
Jean-Numa Ducange ordnet das Œuvre des Leipziger Historikers Walter Markov umsichtig in die akademischen Grabenkämpfe und Versöhnungsgesten des Kalten Krieges ein. Pascal Dupuy spürt der Revolution in der Popmusik an der Wende zum 21. Jahrhunderts nach. Punktuelle Einblicke in regionale Erinnerungskulturen bieten die Miniaturen zur bretonischen Revolutionsgeschichte von Sophie Kervran und Sébastien Carney, der Beitrag von Éric Saunier zu Ego-Dokumenten aus Städten der nordfranzösischen Atlantikküste sowie Laurent Brassarts Übersicht über den Umgang mit der Revolution im Nord-Pas-de-Calais im 19. und 20. Jahrhundert. Einige der Granden der Revolutionsforschung nutzten das Seminar, um über neue Forschung zu berichten. Sophie Wahnich ordnet die Kritik von Lévi-Strauss und Foucault an Sartres Revolutionssympathie in den 1960er Jahren ein. Hervé Leuwers untersucht quellennah und aufschlussreich die Irrwege der Erinnerungsnotizen des Konventmitglieds Marc-Antoine Baudot bis zu ihrer Publikation im späten 19. Jahrhundert. Die Beiträge von Jean-Clement Martin, Annie Jourdan, Pierre Serna, Philippe Bourdin, Christian Amalvi, Danielle Tartakowsky und Laurent Douzou (in der Reihenfolge ihres Auftretens in Brest) lesen sich indes als handliche Synthesen ihrer bekannten Monografien.
Die Einblicke in die Empirie sind erhellend, die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gestaltet sich aber als schwierig. In der Einleitung bietet Anne de Mathan einen Rundumschlag zur Gedächtnisgeschichte von Augustinus bis Lanzmann. Die Französische Revolution verweist sie in die Nebenrolle eines forschungspraktisch geeigneten »objet« (S. 21).
Ihr Schlusswort, das den gewählten Zugang wiederum freimütig zum »tour d’horizon« (S. 365) degradiert, schwingt sich dann aber sogar zu revolutionärem Pathos auf. Diese prinzipielle Unentschlossenheit des Bandes zwischen einem Einblick in die keineswegs brandaktuelle Gedächtnisforschung und einem Beitrag zu einer im letzten Jahrzehnt äußerst dynamischen Erforschung der Französischen Revolution als Ergebnis vielstimmiger Erinnerungen schlägt sich auch auf dem Titelblatt nieder. Was das als Cover gewählte Gemälde »Entre chien et loup« von Marc Chagall aus dem Jahr 1943 hier zu suchen hat, bleibt offen. Der Untertitel raunt, ohne zu erklären. Der Obertitel schließlich missachtet wesentliche Erkenntnisse der neueren Forschung, indem er den bunten Themenstrauß des Seminars unter dem Begriff der »Mémoires de la Révolution française« zusammenbindet, ohne ihn in der Einleitung nachvollziehbar zu erläutern. Eine akribische Unterscheidung zwischen der traditionsreichen und hochgradig stilisierten literarisch-historiografischen Gattung der »Mémoires« (mit Majuskel) und Phänomenen der »mémoire(s)« (mit Minuskel) als Ausdruck einer pluralistischen Gedächtnislandschaft sind aber gerade für das Verständnis der Französischen Revolution unabdingbar und seit Damien Zanones literaturwissenschaftlichem Standardwerk state of the art einer Forschungsrichtung, als deren Vertreterin sich auch die Rezensentin versteht1. Dabei unterschlägt de Mathan gar nichts, sondern zitiert allenthalben. Was entsteht, ist ein Text mit einem insgesamt umsichtigen und insofern nützlichen Fußnotenapparat, der gleichwohl die dort verborgenen Hinweise fröhlich ignoriert, um das Rad der Gedächtnisgeschichte in Revolutionszeiten noch einmal neu zu erfinden.
Das Format der »actes du séminaire« entpuppt sich folglich als eine Spielart jener Akkumulationspublizistik, die auch in Gestalt der deutschen »Sammelbände« grassiert. Weil sie in erster Linie Ausdruck akademischer Geschäftigkeit sind, dienen diese Bücher am ehesten als Werbetafeln für eigene Vorhaben und im Sinne eines durchaus ernstgemeinten wissenschaftlichen Ethos auch als wohlfeile Reverenz an die Leistungen der anderen. In diese Affirmationsspirale passen auch die regelmäßig anzutreffenden unaussprechbaren Abkürzungen der französischen Laboratorien (LabEx, Inserm etc.), die dem Jargon deutscher Forschungsverbünde wesensverwandt sind.
Falls der Krise der Gegenwart etwas abzugewinnen ist, so könnte der Auftrag lauten: Im notgedrungen angebrochenen Zoom-Zeitalter einmal innezuhalten; sich dann so bald wie möglich wieder in Brest und andernorts zusammenzusetzen und miteinander zu sprechen; nur solche Bücher zu schreiben, fachlich lektorieren zu lassen, zu veröffentlichen und, ja, zu rezensieren, in denen alte Gedanken und zündende Ideen neue Erkenntnisse hervorbringen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anna Karla, Rezension von/compte rendu de: Anne de Mathan (dir.), Mémoires de la Révolution française. Enjeux épistémologiques, jalons historiographiques et exemples inédits. Actes du séminaire de recherche Brest 2013–2015, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2019, 392 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-7702-2, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75515