Nach einem fast einjährigen Prozess wurden am 4. Februar 1575 in Wolfenbüttel der Alchemist, lutherische Kirchen- und Hofrat Philipp Sömmering, seine Laboranten Sylvester Schulverman und Heinrich Schombach, dessen Ehefrau Anna Zieglerin, gleichfalls Alchemistin, sowie Dr. Georg Kommer und Jobst Kettwig, beide vormalige fürstliche Ratgeber, zum Tode verurteilt. Die Form der nachfolgenden Hinrichtung variierte jeweils nach Schwere der gestandenen Verbrechen (Zauberei, Mord und Mordversuch, Betrug, Diebstahl, Verunglimpfung des Herzogs) zwischen Enthauptung, Rädern, Vierteilen oder Verbrennung. Diese sicher öffentlich vollzogene Exekution setzte den Schlusspunkt zu einer Kette von Ereignissen, die im Umfeld der so genannten Grumbachschen Händel (1567) in Sachsen-Gotha am Hof des später abgesetzten Herzogs Johann Friedrich II. begonnen hatten.

Nicht weniger als 31 Aktenbündel im Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel (S. 3) liefern jenes Material (unter anderem Verhörmitschriften, Briefe, alchemistische Rezepte und Bestelllisten), welches die ohne Zweifel abenteuerlich-verwickelten (angeblichen) Lebenswege der Protagonisten entschlüsseln hilft. 1883 hat der Wolfenbüttler Jurist Albert Rhamm eine erste, durchaus gründliche Analyse der einschlägigen Prozessakten unternommen, welche allerdings den Methoden und Fragestellungen des 19. Jahrhunderts verhaftet blieb. So vertraute er noch allzu voreilig den im Strafverfahren gewonnenen Aussagen der angeklagten Personen.

Die Biografien von Philipp Sömmering, eines von Philipp Melanchthon ordinierten Pfarrers aus Thüringen, der sich um 1567 auf die Alchemie verlegte, sowie von dessen Entourage, fanden früh das Interesse von Tara Nummedal, jetzt Professorin für »History and Italian Studies« an der Brown University (Providence). Die ausgewiesene Expertin auf dem weiten Feld der frühneuzeitlichen Alchemie nutzte bereits in ihrer ersten Monografie Sömmerings Werdegang, Ausbildung, Aufstieg und Fall als Leitfaden, um den Karrieren von Alchemisten im Kontext von Reformation, Konfession, Fürstenalchemie und Unternehmertum nachzuspüren1. Es gelang ihr, die Bedeutung von »Alchemie« im Rahmen der »scientific revolution« herauszustellen, obgleich (oder weil) es keinen festgefügten Kanon, kein universitär etabliertes Studienfach Alchemie gab, sondern unter diesem Label eine Vielzahl an Diskursen und Praktiken zwischen alchemia medica, alchemia transmutatoria, alchemia technica und alchemia mystica oszillierte.

Fürsten (und ihre Gemahlinnen) versuchten sich selbst in der Alchemie; sie galt als Mittel der Repräsentation, gehörte zum höfischen Patronage- und Klientelsystem. Alchemisten agierten als Ärzte, Apotheker und Prognostiker, als Drucker, Glasmacher, Bergbauexperten, als Produzenten des »Steins der Weisen« und als »Goldmacher«, nicht zuletzt, um die notorisch leeren fürstlichen Kassen zu füllen. Alchemie blieb ein hochriskantes, prekäres Geschäft, konnte doch die Nichterfüllung eines Kontraktes als Betrug gewertet und mit dem Tod am Galgen geahndet werden, wie die zahlreichen Kriminalprozesse gegen Alchemisten zwischen 1575 und 1606 zeigen.

Dabei besaß die Zuschreibung von Betrug – ganz gemäß dem aus Kriminalitäts- und Hexenforschung bekannten »labelling approach« – viele Funktionen für Alchemisten und deren Patrone: »they employed the category of the fraudulent alchemist to marginalize competitors, explain failed alchemical processes, and define what they envisioned the ›true‹ alchemy to be.2« Damit eröffnete Nummedal einen wichtigen Perspektivenwechsel: Die Bemühungen um (geheimes) Wissen und dessen (durchaus profitorientierte) Umsetzung auf dem »increasingly vibrant and unregulated market for alchemy«3 galt es ernst zu nehmen, zeitgenössische bzw. spätere Diffamierungen waren kritisch zu hinterfragen.

Dieser Grundüberzeugung folgt Nummedal einmal mehr in ihrem zweiten Buch, jetzt zu Anna Zieglerin, von deren Geschichte (oder besser: Geschichten) sich die Verfasserin außerordentlich fasziniert zeigt. Die Zieglerin, auch bekannt als Anna Maria oder Anne Marie (von) Zieglerin, kam mit Philipp Sömmering 1571 nach Wolfenbüttel. Gemeinsam gewannen sie das Vertrauen von Herzog Julius. Anna begann, sich selbständig als Alchemistin zu betätigen und wurde kaum vier Jahre später dort wegen (angeblicher) Zauberei, Giftmischerei, Kindstötung und Unzucht verbrannt. Seit dem Jahr 2001 widmet Nummedal dem Leben, alchemistischen Denkgebäude und Wirken der Zieglerin zahlreiche Beiträge, deren Ergebnisse in die hier vorzustellende Monografie münden.

Wer allerdings eine reine Zweitverwendung erwartet, wird höchst positiv überrascht. Fast 20 Jahre nach ihrem ersten, preisgekrönten Aufsatz zur Zieglerin modifiziert Nummedal nicht nur ihre früheren Interpretationen4, sondern sie stellt die Charaktere im Drama um Anna Zieglerin auf die große Bühne des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation mit seinen Netzwerken von Dynastien, Fürstinnen und Fürsten, Höflingen, lutherischen Pfarrern und Alchemisten, eingebettet in Diskurse um Reformation und Prophetie, Endzeit und Apokalypse, auch beeinflusst von ersten Hexenverfolgungen.

Die Geschehnisse am Hof zu Wolfenbüttel, das Gerangel zwischen alten und neuen Favoriten, deren Intrigen, Machtkämpfe und Komplotte, welche letztlich zur Inhaftierung von Sömmering, Zieglerin und der anderen Verdächtigen führten, verknüpft Nummedal mit ähnlich gelagerten Vorgängen an den Höfen in Gotha, Dresden und Berlin. Einfluss erhielt ebenfalls der aus Berlin entsandte Scharfrichter, der wohl kurz zuvor (1573) im Verfahren gegen den jüdischen Münzmeister und Hoffaktor Lippold Ben Chluchim mitgewirkt hatte. Diesem war das Geständnis abgepresst worden, mit Zauberei und alchemistischer Schwarzkunst Kurfürst Joachim II. von Brandenburg, den Vater von Herzogin Hedwig, ermordet zu haben.

Das große Dilemma, mit dem sich bereits Albert Rhamm konfrontiert sah, kann jedoch auch Nummedal nicht lösen, denn es gibt fast keine Nachrichten über Anna Zieglerin, die nicht aus den Akten des 1574/1575 geführten Kriminalprozesses herrühren. Alle Narrative über deren angeblich zu frühe Geburt, ihre Aufzucht, eingewickelt in eine Menschenhaut und versorgt mit einer lebensbringenden alchemistischen Tinktur bzw. einem Balsam, ihre nicht nachweisbare Herkunft aus einer durchaus bekannten niederadligen Familie (S. 209, Anm. 3), über Werbungen5, Liebesbeziehungen und Heiraten oder über ihre Initiation mit alchemistischem Wissen6 stammen größtenteils aus den Verhören, denen die Zieglerin, ihr Ehemann, Sömmering und die anderen Angeklagten unterzogen worden sind.

Nummedal sieht die Möglichkeit, dass es sich bei diesen »stories« um Übertreibungen oder gar Erfindungen handelt (S. 36, 60, 176), die sich nicht zuletzt der Verhörsituation verdankten. Damit dieser Überlieferungskontext nicht vergessen wird, legt die Verfasserin im reichen Anmerkungsapparat die Herkunft jeder Äußerung, jede Narration, jeder Zuschreibung, jeder Denunziation durch Zitate aus den Originalquellen vorbildlich offen. Trotz aller quellenkritischen Bedenken zielt ihre spezifische Lesart der »Akte Zieglerin« darauf, mit mikrohistorischer Akribie deren Stimme inmitten aller Fremd- und Selbstzuschreibungen, mythomanischen Fantasien, Falschaussagen und Denunziationen hör- und verstehbar zu machen.

Darüber hinaus ermöglicht die Beschäftigung mit Anna Zieglerin »[to refocus] attention on the religious, gendered, and political meanings of early modern European alchemy in the wake of a generation of revisionist scholarship« (S. 6). »Zieglerin’s life and ideas reveal how tightly alchemy was entwined with the political, religious, social, and intellectual culture of Reformation Europe« (S. 9).

Vor diesem Hintergrund zeigt Nummedal, mit welchen Strategien Anna bemüht blieb, ihren Platz bei Hof zu finden, trotz der deutlichen Anfeindungen, die ihr von Herzogin Hedwig sowie Katharina Markgräfin von Brandenburg-Küstrin, Schwester des Herzogs, entgegengebracht wurden. Die Zieglerin muss zu den wenigen bekannten Alchemistinnen der Frühen Neuzeit gezählt werden. Ohne Zweifel unterhielt sie ein eigenes Laboratorium mit einem Assistenten. Mit ihrer Arbeit und ihren Ideen konnte sie – unter Umgehung des Hofes der Herzogin – das Vertrauen des Herzogs gewinnen, ein Umstand, der augenblicklich Verdächtigungen wegen Unzucht, Zauberei und Betrug nach sich zog. Wohl auch um diesen Unterstellungen entgegenzuwirken, entwarf Anna gemeinsam mit einem Rezept für ein goldfarbenes Öl, das so genannte »Lion’s blood« (lewen bludt), ein eschatologisches Programm, inszenierte sich als engelsgleiche, reine (da ohne Menstruation) »Protestant Virgin Mary«, die gemeinsam mit dem (erfundenen) Adepten Karl Graf von Oettingen, angeblich einem unehelichen Sohn des Paracelsus, eine neue, langlebige und starke Menschenrasse hervorbringen wollte:

In einem nur wenige Wochen dauernden Rhythmus wollte Anna aus ihrem durch das Lion’s blood gestärkten und quasi geläuterten Leib, der als geheiligtes alchemistisches Gefäß fungierte, jene Kinder produzieren, die anders als von Paracelsus’ Homunculi tatsächlich beseelt sein sollten. Die angepriesene, aber niemals zustande gekommene alchemistische Tinktur sollte außerdem bei der Herstellung des Steins der Weisen helfen, gegen Lepra wirken sowie das Wachsen und Reifen von jeglicher Materie fördern.

Gerade in der Interpretation von Annas alchemistischen Konzepten – festgehalten in einem Büchlein, das nur mehr in einer handschriftlichen Kopie aus der Feder von Herzog Julius existiert (S. 221) – entfaltet Nummedal ihre tiefgehenden Kenntnisse frühneuzeitlicher Alchemie. In ihrer Perspektive wird Anna Zieglerin zu einer selbstbestimmten Akteurin, zu einer Alchemistin und Prophetin, die erst im Strafverfahren umgedeutet wird zur Schadenszauberin und Giftmörderin, Betrügerin, Ehebrecherin und Kindsmörderin. Als dessen Vorbild diente das Verfahren gegen Lippold Ben Chluchim (S. 171–174).

Nummedal sucht eine kaum mögliche begriffliche Trennung zwischen »witchcraft« und »sorcery«, um das »distorted image of Zieglerin as a witch« (S. 6) sowie die Legende von deren Hinrichtung auf einem eisernen Stuhl zu korrigieren. Schließlich sei Anna trotz aller Zaubereivorwürfe niemals bezichtigt worden, einen Teufelspakt geschlossen, mit Dämonen verkehrt oder den Hexensabbat besucht zu haben (S. 155). Das Fehlen dieser diabolischen Ingredienzien darf jedoch nicht überraschen; denn im Kriminalverfahren kam die Carolina zur Anwendung (S. 164, 165, 177). Dort wird lediglich der Schadenzauber als strafwürdiges Delikt thematisiert, das theologisch jedoch einen expliziten oder impliziten Teufelspakt voraussetzt.

Anna scheint außerdem – gleichfalls gemäß der Carolina – nach ihrer Lehrmeisterin im Zaubereidelikt gefragt worden zu sein (die nicht aufzufindende Mutter Eyle). Die Verbrechen, welche Anna schließlich begangen haben sollte, waren »a mix of medicine, magic, and poison, both demonic and natural, and all designed to kill, cripple, manipulate affections, and even strengthen one's resolve not to confess evil deeds« (S. 170). Damit musste sie eindeutig als mit dem Teufel im Bunde stehende Zauberin gelten, eine Bezeichnung für »Hexen«, die in den deutschsprachigen Akten bis weit hinein in das 17. Jahrhundert benutzt wurde.

Das spannend geschriebene Buch liest sich wie ein historischer Roman. Diesen Eindruck verstärkt ein gleich auf der ersten Seite zu findender »Cast of Characters«. Nummedal gewährt dem Drama um Anna Zieglerin ein Vorspiel (»Introduction. A Witch’s Chair?«), in dem Mythen und Legenden (z. B. deren angebliche Hinrichtung auf einem eisernen Stuhl) angesprochen werden, und ein Nachspiel (»Conclusion. Afterlives«), welches die späteren Erzählungen um Anna Zieglerin einordnet. In ihre abschließende »Chronology of Events« nimmt die Verfasserin nur gesicherte Daten auf. Erneut wird deutlich: Die »wahre« Geschichte der Anna Zieglerin ist verloren, was bleibt sind mehr oder weniger plausible Deutungen. Ob die Protagonistin eine tiefreligiöse Alchemistin, eine begabte Hochstaplerin und Betrügerin, eine Giftmörderin oder lediglich der Sündenbock für die Umtriebe ihrer männlichen Begleiter gewesen ist7 – je nach Perspektive des oder der Fragenden werden sich Argumente für jede der Zuschreibungen finden lassen.

Abschließend wundert sich Nummedal über das Fehlen eines zeitnahen Kommentars zu dem doch Aufsehen erregenden Prozess (S. 182). Tatsächlich – und von ihr sowie ebenfalls von Ute Frietsch unbemerkt – notierte schon am 4. März 1575 der Zürcher Pfarrer Johann Jakob Wick in seinem »Wunderbuch« ganzseitig die aus Wolfenbüttel eingetroffene nüwe zeitung8. Hier heißt es unter anderem, Herzog Julius sei von einer Truppe böser Leute incantiert und verzaubert worden, um ihn zu »meistern« und letztlich mit Gift zu ermorden. Unter anderem habe man ihn dazu bringen wollen, das schöne wyb des aus den Niederlanden (!) stammenden Prädikanten Philipp zu beschlafen, um damit gyganten, helden oder Rysen zu zeugen.

Genau listete Wick die einzelnen Hinrichtungen auf; unter anderem seien die Zauberinnen Frauw Anna Maria und Elizabeth verbrannt worden. Auf einer ganzen Seite visualisiert eine Tuschezeichnung missverständlich das grausame Geschehen; denn sie zeigt (analog zu den drei genannten Vornamen) drei (!) Frauen im Feuer9. Damit erreicht das Drama endgültig die Bühne des Fantastischen: Anna Zieglerin verschwindet gänzlich als (präsumtive) Mutter eines neuen, alchemistisch geläuterten Menschengeschlechts und muss ihr Schicksal gar mit einer erfundenen (?) Elisabeth teilen – oder aber eröffnet sich hier eine weitere Geschichte, die es noch zu schreiben gilt?

2 Siehe die Projektbeschreibung: https://vivo.brown.edu/display/tnummeda#Research.
3 Ibid.
4 Noch 2001 hatte Nummedal Annas Lebensweg aus den Akten des Strafprozesses eher unkritisch übernommen, ebenso wie Rhamms Behauptung, die Alchemistin sei auf einem eisernen Stuhl verbrannt worden. Siehe: Tara Nummedal, Alchemical Reproduction and the Career of Anna Maria Zieglerin, in: Ambix 48 (2001), S. 56–68, hier S. 56-58. Der entsprechende englischsprachige Wikipedia-Artikel (https://en.wikipedia.org/wiki/Anna_Maria_Zieglerin) stützt sich auf den genannten Aufsatz von Nummedal, während der deutschsprachige Artikel (https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Marie_von_Ziegler) auch regionalhistorische Literatur heranzieht. - Nummedal bedankt sich für die vorab erlaubte Nutzung des Manuskripts eines zeitgleich erschienenen grundlegenden Aufsatzes (S. 201): Ute Frietsch, Leben und Sterben in der Alchemie: Die Hinrichtung der Anna Maria Ziegler und die Spur eines Artefakts, in: Feurige Philosophie. Zur Rezeption der Alchemie, hg. v. Petra Feuerstein-Herz, Wolfenbüttel 2019, S. 15-42.
5 Angeblich bemühte sich König Friedrich von Dänemark um ihre Hand. Er soll aus großer Liebe sogar ihr Blut getrunken haben (S. 121, 154). Weitere (angebliche) Bewerber um Annas Gunst sollen Ludwig von Hessen-Marburg, Johann Friedrich von Sachsen und der Fürst von Anhalt gewesen sein; vgl. deren Nennung bei Albert Rhamm, Die betrüglichen Goldmacher am Hofe des Herzogs Julius von Braunschweig. Nach den Proceßakten dargestellt, Wolfenbüttel 1883, S. 14.
6 Sowohl der Adept Karl Graf von Oettingen als auch die ominöse Mutter Eyle stellten sich als Erfindungen heraus (S. 146-147, 176, 248).
7 Diese Möglichkeit erwägt Nummedal in Alchemy and Authority (wie Anm. 1), S. 8.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rita Voltmer, Rezension von/compte rendu de: Tara Nummedal, Anna Zieglerin and the Lion’s Blood. Alchemy and End Times in Reformation Germany, Philadelphia (University of Pennsylvania Press) 2019, XII–288 p., 16 fig. (Haney Foundation Series), ISBN 978-0-8122-5089-3, GBP 43,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75516