Welterbestätten sind in den vergangenen Jahren vor allem durch Bilder von Zerstörung in die Öffentlichkeit getragen worden – sei es als gezielte und kalkulierte Zerstörungspropaganda von Daesh in Palmyra oder durch den Brand von Notre-Dame de Paris, der die französische Politik und Gesellschaft langfristig in Atem hält. Gemeinsam ist beiden Katastrophen, dass Bilder im öffentlichen Bewusstsein eingebrannt sind – Bilder, die produziert und verbreitet wurden, Identitäten berühren und Entscheidungen evozieren und forcieren: »Welterbebilder«, die eine Wirkmacht entfalten.
Diesem so präsenten, aber ungleich offensichtlichen Komplex der Welterbebilder widmet sich der vorliegende deutsch-französisch-marokkanische Sammelband, der vier Tagungen aus den 2010er Jahren dokumentiert. Das Sammelwerk fragt nach der »Veränderung und Persistenz« von Bildern der Welterbestätten in der Neuzeit seit dem 18. Jahrhundert und mit chronologischen Vorgriffen bis ins Spätmittelalter. Die Relevanz dieses Ansatzes erklärt sich aus der im Band vertretenen Prämisse an Welterbestätten mit UNESCO-Klassifizierung: Diese werden als historische, meist eurozentrische Zuschreibungen mit Wurzeln in einem aufklärerischen Verständnis charakterisiert, deren Status erst durch kulturell gewachsene Zuschreibungen erfolgen kann. Diese Zuschreibungen historisiert der Band in der Frage nach den Imaginationen von Kulturlandschaften bzw. Welterbestätten seit vormodernen Reiseaufzeichnungen.
Gefragt wird, wie ein Ort zum Identitätsort wurde, der erst als Weltkulturerbe anerkannt wird, und anschließend mit Tourismus, nationalem Populismus oder gar durch bildgewaltige Zerstörungsinszenierungen instrumentalisiert werden kann. Aus der Masse der von der UNESCO bezeichneten Welterbestätten wählen die Forscherinnen und Forscher die Welterbetäler aus, die – so die Einleitung (S. 18f) – politisch, konfessionell und sprachlich besonders diversifizierte Identitäten aufwiesen. Zu den vorrangigen Beispielen des Bandes gehören das Welterbetal von Marrakesch und das Mittlere Rheintal, aber auch das Val de Loire, das Donautal, die Somme, die Saale oder der Douro sind repräsentiert, was zwar den Fokus erweitert, der Vergleichbarkeit aber nicht dient, sondern den Vergleichsrahmen aufweicht.
Welterbestätten als interdisziplinären Forschungsgegenstand einer »histoire croisée« zu benennen, die nach Darstellungen und Erscheinungsbilder der Kulturstätten vom 18. ins 21. Jahrhundert fragt, erscheint aus einer historiografischen Sicht einleuchtend, aus einer tourismuswirtschaftlichen Sicht weiterführend und aus einer kulturpolitischen Sicht geradezu notwendig – stehen doch die Auswahl- und Zuschreibungspraktiken der UNESCO ohnehin in der Kritik. Der Fokus auf Flusstäler, die Welterbe sind oder es werden woll(t)en, überzeugt hingegen erst auf der Ebene der Quellen, die dieser interdisziplinäre Band zusammenbringt: Diverse Wahrnehmungsäußerungen in unterschiedlichen Medien zum geografischen Raum legen Persistenzen und Kontextverschiebungen offen. In der Summe der Beiträge versammelt sich daher ein Quellen-Potpourri, in dem Reiseberichte der Aufklärung neben Fotobüchern der Goldenen Zwanziger, der kostenlosen TV-Zeitschrift »Hörzu« oder Interviews mit Altstadtbewohnerinnen und -bewohner zu vergleichbaren Quellen werden.
Die erste Sektion ist der Imagination der Welterbestätten in und um Marrakesch gewidmet. Neben einem Porträt der Stadtgeschichte und ihrer kulturgeschichtlichen Verortung (man möchte fragen: Zuschreibung?) in der Braudel’schen »Méditerranée« und einer Vorstellung stadtgeschichtlicher Forschungen bietet Alexandra Schäfer-Griebel eine Untersuchung der Abbildungen und Erwartungsbildungen nordafrikanischer Städte in der europäischen Perspektive des 16. Jahrhunderts. Stadtansichten, wie sie Franz Hogenberg und Georg Braun im späten 16. Jahrhundert boten, waren kulturelle Konstrukte aus einer pragmatisch bedingten Material- und Vorlagenauswahl, Neugierde und Vorurteilen.
Wie diese (Vor)Urteile changieren konnten, leitet die zweite Sektion ein. Sie eröffnet Trevor Harris mit einer Untersuchung britischer Sichtweisen auf die Loire um 1800. Was Briten über die Loire schrieben, gleicht dem, was über den beginnenden Tourismus am Rhein bekannt ist, wobei Harris zwischen den zeitlichen Wahrnehmungsstufen einer »ignorierten Loire«, einer »kritisierten Loire« und einer »glorifizierten Loire« in der britischen Perspektive differenziert. Aus der Feder des Herausgebers Ludolf Pelizaeus stammt anschließend der Beitrag, der eine Brücke zwischen den UNESCO-Tälern Mittelrhein und Marrakesch zu schlagen vermag: Basierend auf einer Untersuchung der durch Reiseführer vorbestimmten Bilder über das Mittelrheintal, stellt Pelizaeus fest, dass die gezeichneten Bilder des rheinischen Räubers in Gemälden und Literatur neben einer orientalistischen Wahrnehmung standen, geht die künstlerische Sichtbarmachung des Rheins doch mit der Popularisierung des arabischen Orients in Deutschland einher. Aus dieser Annäherung von Rhein-Bild und Orient/Marokko-Bild mit jeweils attraktiv-romantischer und bedrohlicher Note vergleicht der Autor die Imagination der beiden Regionen seit dem 18. Jahrhundert, die im Welterbestatus mündeten.
Hebt Pelizaeus für die Reiseführer des 19. Jahrhunderts noch deren eher suggerierte Realitätsdarstellung hervor, führt die Fotografie im folgenden Aufsatz ein Vermittlungsmedium ein, das die idealisierten Vorstellungen der vorherigen Druckmedien sowohl bestätigen als auch korrigieren konnte. Mit den untersuchten Fotobüchern aus den 1920er Jahren kann Sandra Krahwinkel-Oster mit dem Medienwechsel auch eine Motivwandlung ausmachen, in der der Rhein dichter, umfassender und lebensweltlicher dokumentiert wurde. Mit der Dokumentation einher ging eine deutlichere nationalistische Vereinnahmung als »deutscher« Fluss.
Eine den Band schon in seiner Prämisse durchziehende Problematisierung der UNESCO-Zuschreibungen wird im Beitrag von Meinrad von Engelberg und Robert Born besonders deutlich. Hier erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit den UNESCO-Kriterien der Authentizität einer Kulturlandschaft oder Welterbestätte, die Zuschreibungen eines »lieu de mémoire« wie das Somme-Tal oder der Donau/Wachau übergingen, auch wenn dadurch ein vergleichbarer kultureller und identitätsstiftender, gleichsam »einzigartiger« Wert entstehe. Ergo: Auch Anträge bei der UNESCO müssen »imaginieren« und sind angewiesen, ein »einzigartiges« Bild einer authentischen Kulturlandschaft zu schaffen, um in der Zuschreibung als Welterbe anerkannt zu werden. Für das Sommetal benennt der Folgebeitrag diese Herausforderung, während andere Beiträge aufzeigen, dass die Wertzuschreibung gesteuert werden kann, z. B. in der Labelisierung und dem Marketing der Heil- und Medizinpflanzen Marokkos als authentischem Kulturbestandteil, mit der Betonung der einzigartigen Portweinproduktion des Dourotals oder in der filmischen Inszenierung von Marrakesch.
Der konsequent zweisprachige Band bietet interessante Betrachtungen der Weltkulturerbestätten und historisiert ihre Zuschreibungen in interdisziplinärer Perspektive. Bisweilen kommt bei der mitschwingenden Kritik aber die Historisierung der UNESCO und des internationalen Schutzes unbeweglicher Kulturgüter zu kurz. Eine Einbeziehung der Kulturschutzbemühungen und völkerrechtliche Verträge vor den UNESCO-Aktivitäten der 1970er Jahre könnte die Erkenntnisse noch weiter differenzieren und zudem kontextualisieren, dass die Zuschreibungen und Bildproduktionen schon vorher kulturpolitische Wirkmacht entfalteten.
Bemerkenswert bleibt aber, in welchem interkulturellen Kontext diese Fragestellung aufgeworfen wurde. Die Zusammensetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern marokkanischer, deutscher und französischer Institutionen und zeigt per se, dass die UNESCO-Stätten weder national vereinnahmt noch hinterfragt werden können. In dieser kulturpolitischen Aussagekraft steckt eine der Stärken des Bandes. Zugleich versteckt sich der Band nicht vor den macht(kultur)politischen Realitäten des 21. Jahrhunderts und der multilateralen UNESCO-Politik im postkolonialen Zeitalter. Widersprüche, Kritikpunkte an Auswahlprozessen, aber auch das notwendige Strategiebewusstsein bei der Dechiffrierung, Formulierung und touristischen Vermittlung der »Welterbebilder« werden in vielen Aufsätzen direkt angesprochen, einbezogen oder gar zum Thema gemacht. Gerade hier sticht die Stärke des Bandes hervor, die Weltkulturerbestätten abseits der touristischen Aufmerksamkeit auch in der (geschichts)wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu verankern und so die mittel- und langfristige Konsequenz historiografischen Arbeitens ins Bewusstsein zu rufen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jonas Bechtold, Rezension von/compte rendu de: Ludolf Pelizaeus (Hg.), Images du Patrimoine mondial/Welterbebilder. Changement et persistance des images des sites du patrimoine mondial de l’UNESCO: du Maroc à la vallée du Danube – depuis l’époque médiévale à nos jours/Veränderung und Persistenz der Bilder von UNESCO-Welterbestätten. Von Marokko bis in das Donautal – vom späten Mittelalter bis heute, Münster (Aschendorff) 2019, 391 S., zahlr. Abb. u. Kt., ISBN 978-3-402-13106-0, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75517