Während die meisten Insekten gemeinhin als lästig, unangenehm oder wenigstens unbedeutend wahrgenommen werden, kommt der Biene der Status eines Sympathieträgers zu, was sie zu einem geeigneten Symboltier von Artenschutzkampagnen macht. Die den Bienen zugeschriebenen Eigenschaften lassen sie aber auch zur Projektionsfläche menschlicher Idealvorstellungen werden – so etwa im »Bienenbuch«1 des Thomas von Cantimpré, das mit der Habilitationsschrift von Julia Burkhardt nun ediert, übersetzt und kommentiert vorliegt. Mit dieser wahrlich bienenfleißigen Arbeit von über 1600 Seiten füllt die Mittelalterhistorikerin ein wichtiges Forschungsdesiderat.
Thomas wurde um 1200 geboren, trat im Jahr 1217 den Augustinerchorherren von Cantimpré bei Cambrai bei und schloss sich in den 1230er Jahren den Dominikanern in Löwen/Leuven an. Studienaufenthalte führten ihn nach Paris (ca. 1237–1240), wo er Zeuge der Auseinandersetzungen zwischen Säkularklerikern und Mendikanten an der Universität wurde, und nach Köln (um 1250). Neben einigen Viten verfasste er bis 1255 den »Liber de natura rerum« sowie bis 1270 das »Bonum universale de apibus«. In diesem stellt er das ideale Verhalten von Vorstehern einerseits und Untergebenen andererseits dar. Dafür leitet er jedes zu besprechende Verhaltensideal von Tugenden ab, die den Bienen zugeschrieben werden, und illustriert seine Normvorstellungen anhand zahlreicher Exempla.
Julia Burkhardt beginnt ihre Analyse mit einer vorsichtigen Rekonstruktion der Biografie Thomas’, bei der quellenbedingt vieles im Vagen bleiben muss2. Das zweite Kapitel stellt den inhaltlichen Kern der Arbeit dar, in dem sie darlegt, inwiefern das »Bienenbuch« als Gemeinschaftsentwurf gelesen werden kann. Sie vertritt die gut nachvollziehbare These, dass es sich bei dem Werk um eine Art Predigthandbuch (im Sinne einer Sammlung von Predigtmaterialien) handelt. An dieser Stelle hätten die Forschungen von Nicole Bériou und Louis-Jacques Bataillon hinzugezogen werden können, um die Ausführungen zu Predigthilfsmitteln zu vertiefen und in der (mendikantischen) Predigtpraxis zu kontextualisieren3. Über die Verwendung des »Bonum universale de apibus«, so Julia Burkhardt, konnten den Mitgliedern des Dominikanerordens, aber auch den Gläubigen insgesamt zentrale christliche Moral- und Ordnungsvorstellungen anschaulich vermittelt werden, recht häufig in den Worten (Pseudo-)Senecas. Damit kam dem »Bienenbuch« eine gemeinschaftsstiftende Funktion in zweifacher Hinsicht zu, denn neben der Bedeutung der Aussagen für die christliche Gemeinschaft als ganze finden sich zahlreiche Elemente der Abgrenzung der Bettelorden von anderen Orden sowie positive Darstellungen der Dominikaner, sodass die entsprechenden Passagen auch zur Stärkung der Ordensidentität beigetragen haben dürften. Neben diesem inhaltlichen Schwerpunkt auf Religiosengemeinschaften arbeitet Julia Burkhardt Thomas’ regionalen Blickwinkel heraus, der Brabant klar im Fokus der Erzählungen stehen lässt.
Wenngleich der Entstehungs- und Nutzungskontext der einzelnen Handschriften kaum sicher zu bestimmen ist, versucht die Autorin anhand der Textzeugen, so viel wie möglich über die Werkrezeption zu erschließen. Erhalten sind nach derzeitigem Kenntnisstand 123 lateinische und 16 volkssprachige Handschriften. Es geht ihr in diesem dritten Kapitel um äußere Merkmale der Handschriften, den spezifischen Umgang mit dem Text, die Verbreitung der Handschriften durch Tausch, Schenkung u. a. sowie die vielfältigen Adaptionen des Textes, um so einen Eindruck vom kommunikativen Gebrauch des Werks zu erhalten. Dabei zeigen sich sowohl ein Schwerpunkt der Überlieferung im 15. Jahrhundert als auch die überwiegend auszugsweise Verwendung des Textes, was die These von der Nutzung als Predigtmaterial stützt. Teilweise finden sich ganze Auszüge in Predigten aus Vadstena, die das »Bonum universale« sogar als Quelle angeben. Durch die Untersuchung der Exzerptüberlieferung wird deutlich, dass besonders die Exempel über Pfründenhäufung und Kritik am Weltklerus insgesamt eine hohe Beliebtheit genossen. Das weitere Spektrum der Rezeption reicht von einer Adaption für den Universitätskontext bei Jan Hus über die Gebetsformeln des Prager Erzbischofs Ernst von Pardubitz bis hin zum »Ameisenbuch« (»Formicarius«) des Johannes Nider († 1438).
Im vierten Kapitel legt Julia Burkhardt ihre Editionsprinzipien offen und beginnt dazu mit einer forschungsgeschichtlichen Einordnung der Vorgängereditionen, insbesondere des bis heute genutzten Drucks von Georg Colvenerius (Douai 31627) und der editorischen Vorarbeiten Benedikt Maria Reicherts († 1917). Daraufhin erläutert sie, warum die Rekonstruktion einer Autoren-Fassung im Falle des »Bienenbuchs« unmöglich sei und sich daher eine »überlieferungsorientiert[e] Herangehensweise, die gleichermaßen Autorenintention und Nutzerausrichtung berücksichtigt«, empfehle (Bd. 1, S. 177). Die Ordnung der Überlieferung gelang Julia Burkhardt mittels einer Kombination aus computergestützter Analyse der Handschriftenbeziehungen (automated stemmatology), die sie mithilfe Züricher Kolleginnen und Kollegen durchführte, und klassischen textkritischen Untersuchungen. Zahlreiche Abbildungen im Appendixteil machen die darauf basierenden Schlussfolgerungen nachvollziehbar.
Für ihre Edition wählte sie jeweils eine Handschrift aus fünf relativ stabilen Gruppen, die unterschiedliche Rezeptionsstadien repräsentieren: die älteste, aus dem 13. Jahrhundert stammende Bologneser Handschrift (Biblioteca universitaria, cod. 1674 [864]), welche eine mittlere Länge des Werks überliefert, ein Münchner Manuskript mit selbigem Textumfang aus dem 15. Jahrhundert (BSB, cod. Clm 7000), einen Textzeugen einer Kurzversion aus dem 14. Jahrhundert (Paris, BnF, cod. Lat. 3309), eine Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, die eine Langversion überliefert (Wien, ÖNB, cod. 14073) sowie eine Handschrift des 14. Jahrhunderts, die zwischen den genannten Gruppen wechselt (Rom, BAV, cod. Vat. lat. 4846).
Hier kann Julia Burkhardt auch darlegen, dass die Langversion aller Wahrscheinlichkeit nach erst im 15. Jahrhundert entstand. In der Edition werden diese Anteile durch Kursivierung kenntlich gemacht. Für alle verwendeten Handschriften liefert sie ausführliche Beschreibungen inklusive Farbabbildungen. Um ihre Editionsmethode auf ähnlich umfangreich und bezüglich der Länge ähnlich instabil überlieferte Texte übertragbar zu machen, macht Julia Burkhardt Arbeitsschritte, Zeitplanung, Überlegungen und methodische Sackgassen transparent. Neben den bereits genannten Anhängen beschließen weitere Anlagen das Buch, so u. a. ein Repertorium aller Textzeugen, das auch Links zu Digitalisaten verzeichnet, eine Liste der 91 von der Autorin ausgewerteten Handschriften, eine Aufstellung der Exzerpt-Handschriften, ein Bibelstellenverzeichnis, eine Zusammenstellung der Kapitelinhalte des »Bonum universale de apibus« und, nach dem über 50 Seiten starken Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Namens- und Ortsregister.
Mithilfe dieser Instrumente lässt sich der zweite Teilband, der Edition und Übersetzung enthält, je nach Interessenslage zielgerichtet erschließen. Wer sich etwa für die (Wahrnehmung der) Pariser Schul- und Universitätsgeschichte interessiert, wird neben den bereits von Baldwin und Gorochov einbezogenen Exempeln zu Petrus Cantor und Philipp dem Kanzler noch ein weiteres entdecken, das einen bisher nicht zu identifizierenden Schüler des Cantors namens Johannes nennt (II, 1, 19)4.
Ebenso finden sich Geschichten aus dem Regularkanonikerstift Saint-Victor in Thomas’ Sammlung, darunter eine überraschend negative Darstellung Hugos von Saint-Victor (II, 16, 5). Die Edition des lateinischen Textes wurde übersichtlich gestaltet; hier stellt sich lediglich die Frage, ob man unbedingt die Interpunktion von Colvenerius hätte übernehmen müssen. Er scheint die in den Handschriften gesetzten puncti elevati als Doppelpunkte wiedergegeben zu haben, während Kommata oder auch gar kein Interpunktionszeichen vermutlich die bessere Entsprechung gewesen wären5. Die Übersetzung, die von Julia Burkhardt bewusst nah am Text gehalten wurde, liest sich insgesamt flüssig.
Élie Berger, der 1895 seine Dissertation über das »Bonum universale de apibus« an der Universität Paris einreichte, schrieb über ein mögliches Editionsprojekt des Werkes: »Alle diese Codices zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, wäre jedoch nicht nur ein sehr langwieriges und lästiges Unterfangen. Ja, vielmehr muss man annehmen, dass es für solch eine große Arbeit kaum jemals einen angemessenen Lohn gibt« (zitiert nach Burkhardt, Bd. 1, S. 167).
Über die Frage des angemessenen Lohnes lässt sich freilich unterschiedlicher Meinung sein, doch sollte Julia Burkhardt zumindest die große Dankbarkeit der Wissenschaftsgemeinschaft sicher sein. Gute Lesbarkeit, Gründlichkeit und Transparenz zeichnen dieses gewichtige Werk im Besonderen aus, begonnen bei den zahlreichen Querverweisen innerhalb der Bände, über die ausführliche Kommentierung der Übersetzung, die diese auch gut in der akademischen Lehre einsetzbar macht, bis hin zur Rekonstruktion ihrer Editionsarbeitsschritte. Die von ihr vorgeschlagene Editionsmethode ließe sich sicher für ähnliche Desiderate, etwa die »Ars Praedicandi« des Alain von Lille, fruchtbar machen und lädt zudem zum Vergleich mit der von Mark Clark angekündigten Editionsmethode für scholastische Texte ein6.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anne Greule, Rezension von/compte rendu de: Julia Burkhardt, Von Bienen lernen. Das »Bonum universale de apibus« des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf. Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar, 2 Teilbände, Regensburg (Schnell & Steiner) 2020, 1616 S., 49 meist farb. Abb. (Klöster als Innovationslabore, 7), ISBN 978-3-7954-3505-9, EUR 76,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75542